Elf Liter Blut, ein Pferd und der Bundeskanzler (stern)

Am Schauspielhaus in Hamburg läuft die Sensation des Jahres, der monumentale Zyklus "Anthropolis". Der "stern" hat hinter die Kulissen geschaut. Im Publikum: Olaf Scholz
„Gewaltig ist vieles, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch.“ (Sophokles: "Antigone")
Der große Zauber beginnt zwei Stunden vor dem Theater-Marathon. Über Hamburg ist schon Nacht. Ein leuchtend weißes Pferd tritt mit klappernden Hufen aus einem Hinterhof beim Deutschen Schauspielhaus. Gleich soll es den König von Theben über die Bühne tragen. Aber erst muss es sich die Beine vertreten, denn es hat gerade eine dreiviertel Stunde Fahrt im Anhänger hinter sich. Also führt Coach Daniela ihren Sam in Richtung Hansaplatz, berüchtigter Dealer- und Prostituierten-Brennpunkt der Hansestadt.
Ein Vagabund nähert sich dem Tier, bleibt schwankend stehen und fragt mit torkelnder Stimme: „Ist das das Pferd von Pippi Langstrumpf?“ Daniela antwortet: „Genau. Und ich bin Pippi Langstrumpf.“ Der Vagabund, ganz Gentleman: „Mit Verlaub, aber das Pferd ist grad ein bisschen interessanter.“ Daniela trägt‘s mit Fassung: „Das bin ich gewohnt. Sam stiehlt mir immer die Show.“ Der Vagabund dreht ab, hat aber noch eine letzte Bitte: „Passt mir bloß gut auf Sam auf.“
Sprühnebel in Gespensterbäumen
Daniela dreht mit Sam eine Runde. Sprühnebelschwaden hängen in Gespensterbäume. Am Fuße einer pompösen Statue warten ein paar Dienstleister der Nacht auf Kundschaft. Davor leuchtet Sam. Das surreale Theaterstück zieht immer mehr Menschen an. Sie machen Selfies mit dem Pferd, tätscheln ihm den Hals. Auf dem Platz der verlorenen Seelen sind alle friedlich und glücklich.
Mit dem Frieden und dem Glück ist es allerdings so eine Sache an diesem Theater-Wochenende. An drei Tagen wird im Deutschen Schauspielhaus das monumentale Antiken-Projekt von Intendantin und Regisseurin Karin Beier aufgeführt. In fünf Stücken erzählt sie Aufstieg und Fall der legendären Stadt Theben. Dafür hat Autor Roland Schimmelpfennig klassische antike Tragödien und Mythen zu einem wuchtigen Zyklus verwoben, dessen Titel schon allein zeigt, dass hier die großen Menschheitsfragen verhandelt werden: „Anthropolis“.
Beier hat viel gewagt mit dem antiken Stoff. In den Theaterkulissen ist zu hören, dass im Hause anfangs große Zweifel herrschten. Schließlich sind gerade Zeiten, in denen sich Theater keine Fehltritte erlauben dürfen. Doch Beier ist ins Risiko gegangen. Voller Selbstbewusstsein hat sie mit ihrer fünfteiligen Serie den Streaminggiganten Netflix & Co den Fehdehandschuh hingeworfen – und das Duell gewonnen. „Anthropolis“ hat dem Schauspielhaus Ruhm und Ehre gebracht: Das Werk wurde zur „Inszenierung es Jahres“ gekürt, das mutige Schauspielhaus zum „Theater des Jahres“. Die Marathon-Vorstellungen, bei denen alle fünf Stücke an drei Tagen hintereinander gespielt werden, sind stets lange im Voraus ausverkauft. „Anthropolis“ ist wohl die wichtigste deutschsprachige Produktion der letzten Jahre. Ein Meisterwerk über Machtkampf, menschlichen Hochmut und Götterfluch.
Das wird naturgemäß blutig. Deswegen streift sich Chefrequisiteur Jörn Woisin gerade Gummihandschuhe über. Dann zieht er einen abgeschlagenen Kopf aus einem Eimer. Zottelig fällt Perückenhaar über Silikon. Das Haupt ist ein naturgetreuer Abdruck vom Kopf des Schauspielers Kristof Van Boven, der heute Abend den Theben-König Pentheus spielt.
Gummifleisch & Zottelhaar
Woisin gießt nun 0,5 Liter Kunstblut über Gummifleisch und Zottelhaar. Die dickflüssige Sorte. Haftet besser. Der abgeschlagene Kopf sieht nun so überzeugend aus, dass Woisin ihn sorgfältig mit einer schwarzen Folie abdeckt, nachdem er ihn im Gang gleich neben der Tür zur großen Bühne abgestellt hat. Schließlich spielen heute Abend auch einige Kinder mit, und die sollen sich vorher nicht erschrecken, wenn sie im Flur über das Königshaupt stolpern.
Hoch oben im fünften Stock stehen 20 japanische Taiko-Trommeln verteilt über die große Probebühne des Hauses. Eine feingliedrige Perkussionistin entlockt einem besonders riesigen Instrument tief schwingende Töne. Später werden alle 20 Instrumente einen Hexensabbat auf der Bühne entfesseln, bei dem der Gott Dionysos seine grausame Macht entfalten wird. Das passt, schließlich werden die traditionellen Trommeln seit je für schamanistische Rituale verwendet. Während ein dumpfes Wummern das Bauchfell aller Anwesenden massiert, erscheint am Probebühneneingang nun ein ernst blickender Herr in schwarzem Anzug. In seiner förmlichen Kleidung will er nicht so recht zu der bunten Musikertruppe hier passen.
Der strenge Herr ist vom Bundeskriminalamt und prüft noch einmal die Gesamtlage. Denn an diesem Wochenende möchte sich der Bundeskanzler den Theben-Zyklus zusammen mit seiner Frau anschauen. Exakt einen Tag zuvor hat Olaf Scholz den erbitterten Machtkampf gegen Boris Pistorius gewonnen. Wahrscheinlich will Scholz sich nun noch einmal vergewissern, ob Herrscherdynastien schon immer so brutal waren wie seine vermaledeite SPD.
Im Theater sagt man, dass man etwa acht Personen in den Kulissen benötigt, um das Spiel von einer Person zu ermöglichen. An diesem Wochenende werden Dutzende von Personen auf der Bühne stehen. Und so herrscht in allen Winkeln und Ecke des riesigen Schauspielhaus-Labyrinths größte Geschäftigkeit. Vom Dach bis zum Keller werden die unzähligen Elemente dieses gigantischen Zyklus‘ vorbereitet. All diese Einzelteile müssen sich dann irgendwie zu einem großen Ganzen fügen. Wie soll das gehen?
Mittler zwischen Kunst & Technik
Auftritt Olaf Rausch, 63. Schlanker, großer Herr, Umgangsformen wie der Zeremonienmeister des Königs von Theben höchstpersönlich. Rausch ist Chefinspizient am Deutschen Schauspielhaus. Er wird an den kommenden Abenden dafür sorgen, dass all die Puzzleteile dieser monumentalen Inszenierung makellos ineinandergreifen. Er ist der Mittler zwischen Kunst und Technik.
Kein Zuschauer wird Rausch zu Gesicht bekommen. Er sitzt gut verborgen in einem kleinen Winkel an der – vom Publikum gesehen – linken Bühnenseite. Konzentriert blickt er auf das große Steuerpult vor sich. Monitore zeigen die Bühne aus unterschiedlichen Winkeln. Eine Infrarot-Kamera macht sogar Geschehen sichtbar, das sich im Dunklen abspielt. Schalter, Knöpfe und Hebel warten auf Rauschs Signale, die er gezielt in alle Winkel dieses riesigen Hauses schicken kann: Kantine, Gänge, Garderoben, Warteräume. Vor ihm steht ein Motorola-Funkgerät, mit dem er einzelne Abteilungen ansprechen kann: Licht, Ton, Technik und die Herrscher über Motoren und Drehwerke, die hoch oben über der Bühne thronen wie unsichtbare Götter. (Moin Rasmus! Bitte gleich bloß nicht deinen Kuli fallen lassen, sonst landet er im Haar der Königin von Theben!)
Auf dem kleinen Tischchen vor Rausch liegt aufgeschlagen ein abgewetzter Klemmbinder: das Inspizientenbuch. Auf der rechten Seite liest man die aktuelle Fassung des Textes. Auf der linken Blanko-Seite hat Rausch mit feinem Bleistift alle Anweisungen notiert, mit denen er den großen Theaterapparat an diesem Abend steuern kann. Gleich wird er hier alles in Gang setzen – vom Einlassklingeln bis zum Schließen des Vorhanges.
Rausch steckt sich noch ein Hustenbonbon in den Mund, rückt sein Brillenetui zurecht, öffnet das Mikro für die verborgenen Lautsprecher in den Kulissen und sagt: „Ich begrüße alle Beteiligten zur 25. Aufführung von ‚Dionysos‘. Ich wünsche allen eine schöne Vorstellung.“ Dann ruft er die Schauspieler auf die Bühne und sendet hinter vorgehaltener Hand seinen ersten Funkspruch in die Tiefen des großen Theaterdampfers: „Licht an!“
Lesen Sie die Fortsetzung der Reportage im "stern" Nr. #51/2024