Bio-Bratwurst und Winzerglühwein im ehemaligen Gestapo-Hof
Am Neuen Wall bullern tieftönend die 24-Zylinder-Motoren von kastigen Mercedes-Geländewagen. Die Luft starrt vor vergoldeten Möwen, die regelmäßig auf die Passanten niederstoßen, um ihnen ihre Jaeger-LeCoultre-Uhren zu klauen. Im Schaufenster des "Techno Gym" hebt ein junger Mann schwere Gewichte. Von seiner Stirn perlen keine Schweißtropfen, sondern 18-Karat-Diamanten, die mit hellem Glockenklingen auf dem glänzenden Boden zerspringen. Er würdigt die zerberstenden Edelsteine keines Blickes.
Ich trete in den Eingang zum prächtigen Görtz-Palais. Links ist ein Showroom, in dem sich ein Mann an einem sehr kleinen Schreibtisch über einen Laptop beugt. Vor ihm steht ein goldener Sportwagen. Das hier ist eine offizielle Ferrari-Niederlassung, und so guckt der Mann auch.
Im Hof ist Weihnachtsmarkt. Hier gibt's keinen vulgären Glühwein, sondern "Winzerglühwein". Bratwurst kostet 900 Euro. Geht eigentlich. Früher gab's dafür zwar 6 Austern. Aber früher sind die Menschen auch an Typhus gestorben. Muss man alles mit einberechnen.
Grüße an Steffi
Ein Mann verabschiedet sich herzend von einem anderen Mann und sagt, er freue sich wirklich sehr, dass er ihn vor den Feiertagen noch einmal gesehen habe und er solle doch bitte Steffi von ihm grüßen. Sie verhalten sich wie ein Liebespaar. Alle verhalten sich inzwischen wie Liebespaare. Selbst, wenn dich heutzutage wer feuert, spricht er mit dir wie auf einem ersten Date. Das letzte, was der Mörder seinem Opfer zuflüstert, bevor er ihm in die Stirn schießt: "Danke, dass Du Dir die Mühe genommen hast, meinen Weg zu kreuzen."
Ich würde Steffi auch so gerne grüßen lassen. Aber die beiden Männer sind schon in ihre Moncler-Red-Wing-Boots-Terre-d'Hermès-Welt verschwunden.
Süße Wehmut umfasst mein Herz. Wehmut, wie man sie früh morgens bei einem Teambuilding-Event in der Lüneburger Heide verspürt, wenn der Morgennebel die malerischen Krüppelkiefern umschmeichelt und man allein mit dem Chef vor dem Flipchart steht, genüsslich einen frisch gepressten Orangensaft schlürft und dem lieben Sven noch ein letztes Mal ungesehen in den Arsch kriechen darf, bevor es alle anderen sehen.
"In diesen Höfen hier gibt's einfach die schönsten Weihnachtsmärkte der Stadt in ", sagt eine Frau an dem Kau-Brei ihrer Bratwurst vorbei. Der Schäferhund an ihrer handgeknüpften Leine schaut freundlich und allwissend. Er muss von Kopf bis Schwanz durchtherapiert sein. Warum sind grad eigentlich alle Hunde weiß? Oder sind die beiden einfach nur KI?
Beschwingt durchquere ich 500 weitere Innenhöfe. In jedem hat man einen Hambacher Forst zu Holzhack verwurstet und einen blinkenden Weihnachtsmarkt auf die Buchenschnitze gestellt. Am prächtigsten ist der im Innenhof des Boutique-Hotels "La Tortue". Dort schwebt Tumbleweed aus sämtlichen Spaghetti-Western in der Luft, und Clint Eastwood höchstpersönlich hat in das Gestrüpp feierlich leuchtende Lichterketten eingeflochten.
Staublandschaft auf Einhorn-Enddarm
Erst versuche ich noch, in diesem Lichter- und Passagen-Wirrwarr die Orientierung zu behalten. Doch schon bald lasse ich mich einfach treiben. Ich werde in die Kunstgalerie "Massoumi" hineingespült. Sie ist riesengroß, damit die Jets von "Emirates" hier parken können. An einer Wand hängen Bilder von Wolfgang Flad. Der Künstler arbeitet mit Staubstrukturen, die er mit "Konrads Spezialkleber" an Leinwänden aus luftgetrocknetem Einhorn-Enddarm befestigt und einfärbt. Eine schäferhundweiße Staublandschaft kostet 14.300 Euro.
Ich beschließe, mir keinerlei Urteil darüber zu bilden und verwandele meine Denklandschaft in ein schäferhundweißes Staubrelief. Denn was immer ich jetzt hier in dieser riesigen Galerie denken würde, könnte wie irgendein kunstfeindlicher Bullshit aus dem wurstkauenden Mund von Markus Söder klingen. Und das will ich auf gar keinen Fall. Denn Kunst ist das Einzige, was uns überhaupt noch retten kann.
Die Immobiliengesellschaft, die all diese Pracht hier entwickelt hat, hat viele schöne Metallbuchstaben an eine Mosaikwand geschraubt. Zusammen ergeben sie ein Zitat des Schriftstellers Franz Hessel: "Flanieren ist eine Art der Lektüre der Strasse." Etwas weiter haben sie gleich noch ein Hessel-Zitat an die Wand geschraubt: "Ich muss eine Art Heimatkunde treiben, mich um die Vergangenheit und Zukunft dieser Stadt kümmern." Wie kultiviert diese Immobilienentwickler sind.
Ich bin ganz benommen von Glühwein- und Bratwurst-Duft. Über meiner Brille liegt ein Sprühregen-Film, durch den ich verschwommen einen weiteren Schriftzug wahrnehme: "Seufzergang". Wie romantisch! Hamburg hat mehr Brücken als Venedig, sagt der Tourismusmanager in mir. Und da ist auch gleich schon wieder eine. Sie führt über den Bleichenfleet. Sie ist überdacht. Wahrscheinlich liegen irgendwelche Seminar-Räume über ihr. Die verschachtelte Architektur hier ist schwer zu begreifen. Auf der Brücke stehen viele Info-Tafeln. Ich beginne zu lesen.
Labyrinth für Nazi-Schergen
Das prächtige Görtz-Palais wurde seit 1814 von der Polizeibehörde genutzt. Die Hamburger Polizei war von Anfang an erzreaktionär und brutal. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine politische Polizei. Die Beamten verkleideten sich als Arbeiter, überwachten revolutionäre Umtriebe in der Stadt, denunzierten und verhafteten. In den 30er Jahren hatte die Behörde dann durch zahlreiche Erweiterungsbauten ein riesiges Gebäudelabyrinth am Bleichenfleet erschaffen. Die verschachtelten Höfe, Passagen und unterirdischen Gänge eigneten sich hervorragend für die Machenschaften der Nazi-Schergen. Gänzlich unbemerkt konnten sie ihre Gefangenen von einem verborgenen Kellerloch in ein noch verborgeneres Kellerloch führen, um sie dort ungestört zu foltern. Wobei man sich fragt, warum die Nazis immer so viel Geheimniskrämerei betrieben. Schließlich hatten sie von ihrer Bevölkerung nachweislich nichts zu befürchten.
Auf der Infotafel zum "Seufzergang" steht: "Diese Tür führte zu einem historischen Gang über den Bleichenfleet. Im Nationalsozialismus nutzte die Polizei diesen Gang, um Personen aus den Arrestzellen unbemerkt von der Öffentlichkeit zu Verhörräumen der Gestapo oder der Kripo zu führen."
Dort, wo heute die schönsten Weihnachtsmärkte der Stadt vor sich hinduften, war also die Zentrale des Nazi-Terrors. Von hier aus ergingen Befehle zu Verhaftungen, Deportationen und Ermordungen.
Wie schrieb Franz Hessel: "Flanieren ist eine Art der Lektüre der Strasse."
Liest man dieses Zitat als Aufforderung zu urbaner Dekodierung, erkennt man ein verstörendes Muster in der Hamburger Stadtpolitik: Das Stadthaus war das Herz der Nazi-Diktatur; der angesagte Feldstraßenbunker wurde von Zwangsarbeitern erbaut; und eben dort, wo bald die neue Kühne-Oper entsteht, schifften sich preußische Soldaten ein, um im Dienste der Kolonialherrschaft einen Völkermord an den Herero und Nama zu begehen. Mit beunruhigender Zuverlässigkeit gedeiht in Hamburg die beliebteste Event-Architektur an den schrecklichsten Erinnerungsorten.