"Sie betrachten uns als Störenfriede": Kolonialforscher wirft dem Hamburger Senat Geschichtsvergessenheit vor

Für den "stern" habe ich ein ausführliches Interview mit dem renommierten Kolonialforscher Jürgen Zimmerer über die neue Kühne-Oper für Hamburg geführt. Das Gespräch machte mir auf erschreckende Weise deutlich, wie wenig der Hamburger Senat an gewissenhafter historischer Aufarbeitung interessiert ist.
Zimmerer hält Klaus-Michael Kühnes Plan, der Stadt Hamburg eine neue Oper für 320 Millionen Euro zu stiften, für eine erinnerungspolitische Katastrophe. Der Hamburger Historiker sieht sowohl den Bauplatz der neuen Oper als auch die Person des Stifters Kühne als hochproblematisch. Zimmerer sagte in unserem Gespräch: "Der Baakenhafen war die logistische Drehscheibe des ersten Genozids des 20. Jahrhunderts. Es ist ein höchst aufgeladener historischer Ort."
Zimmerer führte aus, dass vom Baakenhafen aus etwa 18.000 deutsche Soldaten der Kaiserlichen Schutztruppe unter der Führung des preußischen Generals Lothar von Trotha in einen regelrechten Vernichtungskrieg gegen Herero, Nama, Damara und San im heutigen Namibia (damals Deutsch-Südwestafrika) gezogen seien. Diese Soldaten seien als Täter in einem Volkermord zu betrachten. Zimmerer wies darauf hin, dass im Rahmen dieses Vernichtungskrieges auch erstmalig in der deutschen Geschichte "Konzentrationslager" eingerichtet worden seien. Man kann den Genozid der preußischen Soldaten also durchaus als eine Art Blaupause für den Holocaust betrachten.
Ausgerechnet an diesem historisch belasteten Ort stifte nun mit dem Milliardär Kühne ein Mann eine Oper, der in der Kritik stehe, nicht offen mit den dunklen Kapiteln seiner Unternehmensgeschichte umgegangen zu sein. "So wurde ihm erst letztes Jahr in der Zeitschrift 'Vanity Fair' vorgeworfen, dass er die Rolle seines Vaters und von 'Kühne und Nagel' im 'Dritten Reich' nicht transparent gemacht hat", so Zimmerer.
Der Verdacht stehe im Raum, das Speditionsunternehmen sei Profiteur des Holocausts gewesen, da es Geschäfte mit dem Transport von Möbeln enteigneter Juden gemacht habe. Zimmerer sagte mir: "Dieser Vorwurf ist bislang nicht transparent aufgearbeitet worden. Vielmehr steht der Vorwurf im Raum, Kühne selbst behindere die Aufarbeitung."
Zimmerer wirft dem Hamburger Senat vor, kein wirkliches Interesse an historischer Aufarbeitung zu haben. In unserem Gespräch sagte er: "Ich glaube, bei manchem steht die Frage im Vordergrund: 'Wie kommen wir an dieses Geld?' Es setzt sich ja immer nicht nur der Stifter ein Denkmal, sondern auch derjenige, der den Stifter nach Hamburg holt. Und dafür ist manch einer offenbar bereit, über Prinzipien der kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hinweg zu sehen."
Zimmerer ist Geschichtsprofessor an der Universität Hamburg und leitet zusätzlich seit 2014 die Forschungsstelle "Hamburgs (post-)koloniales Erbe". Erst im vergangenen Frühjahr schlug dieses Institut die Errichtung eines Dokumentationszentrum über Kolonialismus am geplanten Entstehungsort der neuen Oper vor. Nur wenige Monate später beschloss der Senat die Streichung der Fördergelder für Zimmerers Forschungsstelle.
Der Kolonialexperte vermutet nun wohl vollkommen zu Recht, der Senat habe sich mit der Schließung seines Instituts kritischer Geister entledigen wollen: "Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Erforschung und Offenlegung der Vergangenheit unabhängig vom Ansehen der Person oder der Familien nicht mehr erwünscht ist. Und es ist auffällig, dass die Entscheidung, unsere Forschungsstelle zu schließen, in eben jener Zeit gefällt wurde, als der Senat mit Kühne darüber verhandelte, den Baakenhafen ganz anders zu nutzen, als wir es mit unseren Ideen zu einem Erinnerungsort vorgeschlagen haben."
Der Historiker glaubt, man nehme ihn und seine Forschungsstelle als Störenfriede wahr, die lukrativen Stiftungen oder städtebaulichen Entwicklungen im Weg stehen. "Dabei wollen wir ja gar nichts verhindern. Ich sage nur: Man muss zuerst den historischen Kontext klären", so Zimmerer.
Lesen Sie hier das vollständige Gespräch (paid content):
Kühne-Oper: Warum das 320-Millionen-Geschenk ein Desaster ist (stern+)