Nach G20-Krawallen: Flora bleibt! (stern)
Die Rote Flora beherbergt ein breites Spektrum einer alternativen Szene und ist als Kulturstätte eine Ikone der Stadt Hamburg. stern-Autor Stephan Maus meint: Das autonome Zentrum im Schanzenviertel muss bleiben.
Eine Trutzburg. Gegen das System, den Kapitalismus und den ganzen anderen Scheiß.
Die Rote Flora im Hamburger Schanzenviertel wurde 1888 als Variété-Theater erbaut, 1989 besetzt und ist seit 2014 in städtischem Besitz. Der Senat duldet die Nutzung des ehemaligen "Concerthaus Flora" als selbstverwaltetes Kulturprojekt der autonomen Szene. Keine Regierung wagte bislang die Räumung aus Furcht vor Bambule.
Doch seit den G20-Unruhen wird es eng für die Rotfloristen. Die "Bild"-Zeitung fordert: "Machen Sie die Flora platt, Herr Scholz!" Auf Twitter und Facebook heißt es: "Flora muss weg!" Das autonome Zentrum sei ein "Terrornest", mitverantwortlich für die Krawalle in der Hansestadt. Bürgermeister Olaf Scholz nannte die Rotfloristen "geistige Brandstifter". CDU-Generalsekretär Peter Tauber und Bundesinnenminister Thomas de Maizière fordern die Schließung. Die Hatz ist eröffnet. Die Zeit der Sippenhaft bricht an: Der Hamburger SPD-Politiker Arik Willner droht schon, einer anderen Symbolstätte alternativer Kultur, dem Gängeviertel, die Mittel zu kürzen, weil es Partei für die Rote Flora ergreift.
Rote Flora: Anwohner erklären sich solidarisch
Währenddessen erklären sich viele Anwohner mit der Trutzburg solidarisch. In einem offenen Brief widerspricht ein Zusammenschluss von Geschäftsleuten, Café- und Restaurantbetreibern aus dem Schanzenviertel den Darstellungen, die G20-Krawalle seien von linksradikalen Autonomen aus dem Umfeld der Roten Flora ausgegangen. Sie berichten aus eigener Anschauung, dass vor allem Gaffer und Betrunkene für die Randale verantwortlich seien. Die schwarz vermummten Autonomen seien sogar teilweise eingeschritten, um Gewalt zu verhindern und einen Brand zu löschen.
Die Anwohner schreiben weiter: "Wir leben seit vielen Jahren in friedlicher, oft auch freundschaftlich-solidarischer Nachbarschaft mit allen Formen des Protestes, die hier im Viertel beheimatet sind, wozu für uns selbstverständlich und nicht-verhandelbar auch die Rote Flora gehört. Daran wird auch dieses Wochenende rein gar nichts ändern."
Eine Räumung durch den Senat wäre leicht durchzuführen. Legalisiert wurde die Besetzung nie. Aber warum plötzlich schließen? Obwohl die Rote Flora seit Jahren unter verschärfter Beobachtung durch Polizei und Verfassungsschutz steht, fand man bislang keinen Grund zur Räumung.
Bis heute ist auch nicht bekannt, dass während des G20-Gipfels von dem Autonomen-Zentrum eine Straftat ausging. Ja, es wurden Verletzte versorgt. Aber das ist noch kein Vergehen. Vernünftige Stadtpolitik darf sich nicht auf reine Verdächtigungen und Unterstellungen gründen. Sie darf nicht zu Symbolpolitik verkommen, die nichts anderes bezweckt, als nach einem chaotischen Gipfel-Management ein hastiges Zeichen für Law-and-Order zu setzen.
Es ist offensichtlich die Zeit der Kampagnen
Doch offensichtlich ist nun die Zeit der Kampagnen. So versteigt sich der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Joachim Lenders, zu der Aussage: "Die Rote Flora ist heute das strategische Kontrollzentrum der Linksautonomen." Der Polizist irrt. Wie die Polizei überhaupt recht oft in den letzten Tagen irrte. Autonome haben kein Kontrollzentrum. Sie tolerieren keine Hierarchien. Sie wollen eine herrschaftsfreie Gesellschaft. Deswegen heißen sie Autonome.
In der autonomen Bewegung gibt es unterschiedlichste Strömungen. Radikale, Nicht-Ganz-So-Radikale, Veganer, Currywurst-Pommes-Punks. Und alle streiten sich dauernd. Vor allem in der Roten Flora. Wenn irgendwo in dieser Stadt lebhaft über linke Politik gestritten wird, dann hier.
Die Rote Flora beherbergt ein breites Spektrum einer alternativen Szene. Hier trainieren Sportgruppen, es gibt eine Fahrrad- und Motorradwerkstatt, eine Siebdruckwerkstatt, Cafés, Bars und das Archiv der Bewegung. Nun heißt es immer, man solle sich nur vorstellen, ein Nazi-Treff hätte im Mittelpunkt brutaler Krawalle gestanden. Dann wäre eine Schließung doch wohl unvermeidlich. Aber mit einem rechtsradikalen Zentrum ist die Rote Flora nicht vergleichbar. Hier gärt weder Rassismus noch Antisemitismus. Hier werden auch keine Anschläge gegen Menschen gepredigt oder geplant.
Im Gegenteil: Immer wieder versuchten die Rotfloristen während der obligatorischen Schanzenfest-Randalen zum 1. Mai zu deeskalieren. Schon vor dem G20-Gipfel positionierte sich der Sprecher der Roten Flora, Andreas Blechschmidt, klar und deutlich, indem er erklärte, dass Gewalt gegen Menschen kein Mittel politischer Auseinandersetzung sein dürfe. Und unmittelbar nach den Krawallen distanzierte Blechschmidt sich von der sinnlosen Gewalt. Wer der linken Subkultur nun den Veranstaltungsraum und Identifikationsort nimmt, radikalisiert die ganze Szene.
Hardliner haben genug Schaden angerichtet
Ein solches Vorgehen wäre die unvernünftige Fortsetzung der harten "Hamburger Linie" von Polizeidirektor Hartmut Dudde und Innensenator Andy Grote. Während des G20-Gipfels ließen die Hardliner gerichtlich genehmigte Protestcamps räumen und die "Welcome to Hell"-Demo am Hamburger Fischmarkt brutal zerschlagen. Das unangemessene Vorgehen der Polizei hat bei vielen friedlichen Demonstranten das Vertrauen in die Ordnungskraft erschüttert. Hardliner haben genug Schaden angerichtet. Zeit für einen Strategiewechsel.
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Eine Trutzburg für die Vernunft - warum die Rote Flora bleiben muss (stern)