Jobmesse: Wie ich versuchte, mich ganz neu zu erfinden

Jobmesse: Wie ich versuchte, mich ganz neu zu erfinden
Roter Teppich für junge Talente auf der Jobmesse im Cruise Center Altona

Schon richtig, diese Seite heisst "Flaneur". Aber immer nur zweckfreies Herumstreunen kann's ja auch nicht sein. In den heutigen Zeiten ist es überaus wichtig, dass man sich Klarheit über seinen eigenen Marktwert verschafft. Und was wäre dafür besser geeignet als eine Jobmesse?

Praktischerweise findet gerade an diesem Wochenende eine statt. Unten an der Großen Elbstrasse. Verhangener Himmel, trübe Gesamtlage. Egal. Erst mal Richtung Fischmarkt, dann weiter nach Westen: Kopfsteinpflaster, Seafood-Geschäfte, Markthallen, Imbissbuden. Große Fische, kleine Fische, Luxushummer, Kaviar, Bratheringe, Fischfrikadellen. Styroporkisten wehen vorbei. Über allem liegt Kuttergeruch. Beste Kulisse, um einen Preis zu ermitteln. Den Preis der eigenen Haut.

Raumgreifende Zackigkeit: Das Cruise-Center Altona

Die Messe findet im Cruise-Center Altona statt, dessen Architektur vor allem Zackigkeit ausstrahlt. Manche seiner Auswüchse haben keine andere Funktion als messerscharf in den Raum vorzudringen. Dann machen wir das jetzt auch: Jacke ausziehen, in den Rucksack stopfen, Ärmel hochkrempeln, dann ab ins Getümmel von Angebot und Nachfrage.

Getümmel von Angebot und Nachfrage: Jobmesse von oben

Rückwärts einparken? Kein Problem

Erster Stand: Hamburger Hochbahn.

"Moin, ich muss mal meinen Marktwert ermitteln. Ich bin 57 und arbeite als Journalist. Nehmen wir mal an, ich möchte noch mal ganz von vorne anfrangen. Hättet ihr da was für mich?"

Die Personalerin ist Profi. Die spontane Duzerei kann sie nicht schocken. Sie legt sofort los: "Quereinstieg mit 57? Gar kein Problem! Sie können gleich bei uns als Bus- oder U-Bahnfahrer anfangen."

Super! Dann gern U-Bahn. Schiene liegt mir einfach mehr. Ich bin nicht so gut im Rückwärts-Einparken, beichte ich. Doch die Personalerin macht mir Mut: Sie hätten wirklich ganz hervorragende Ausbilder. Zwei Jahre Schulung mit Gehalt, dann klappt auch das Rückwärts-Einparken. Das dürfe man sowieso nicht ohne Einweiser, letzlich also alles gar kein Problem.

Alm-Öhi im Tunnel

Doch ich bestehe auf U-Bahn. Ich sei leider etwas menschenscheu und auch ziemlich spröde im Umgang. Da sei es vielleicht besser, wenn ich nicht allzu viel Sozial-Kontakte hätte. Auch die Hamburger Hochbahn müsse wissen, sage ich, dass der Alm-Öhi schon seit meiner frühesten Kindheit mein erklärtes Role-Model gewesen sei. Und wo könnte man besser mürrische Eigenbrötlerei zelebrieren als vorne in einer U-Bahn-Kabine, während man grantelnd durch düstere Tunnel donnert?

Die Personalerin legt therapeutische Wärme in ihren Blick. Ich müsse mir gar nicht so viele Gedanken machen. Es gebe bei ihnen sehr viele Gelegenheiten, wo ich mir über meine wahre Berufung klar werden könne. Sie fänden für jeden den besten Platz in der großen Hochbahn-Familie. 6000 Mitglieder seien sie, eigentlich sitze in jedem Transportmittel immer auch einer unter den Fahrgästen. Und jeder bekomme seine faire Aufstiegschance. Alle Chefs hätten schließlich mal als Fahrer begonnen. Ich werde mit Prospekten versorgt und weiß von nun an, dass bei der Hamburger Hochbahn immer ein vorgewärmter Fahrersessel auf mich wartet.

Flecktarn VS Regenbogenmuster

Das verleiht mir Schwung. Mit raumgreifendem Erobererschritt tigere ich auf den Stand der Bundeswehr zu. Das Militär hat einen strategischen Posten in der zackigen Messehalle eingenommen und ihn sofort mit einem halben Dutzend Feldjägern gesichert. Nicht, dass die Standnachbarn von "Ikea" noch auf die dumme Idee kommen, ihnen hier Territorium streitig zu machen. Diese Schweden sind nicht zu unterschätzen. Geschickt buhlen sie mit Regenbogentaschen um Aufmerksamkeit.

Die Bundeswehr hat strategisches Terrain erobert und sichert es sorfältig

Alles außer Friseur und Kosmetiker

Ein dynamischer Recke steuert auf mich zu. Er stellt sich als Messefeldwebel vor. "Messefeldwebel?", staune ich ungläubig und füge hinzu: "Was es alles gibt bei euch!" – "Alles außer Friseure und Kosmetiker", antwortet er trocken. Er habe das hier alles aufgebaut und kümmere sich nun um die Personalakquise. Schließlich hätten sie einen enormen Bedarf an jungen Männern.

Dann liefert er historischen Kontext: Nach der Fusion mit der NVA seien sie 500.000 Mann bei der Bundeswehr gewesen. Doch dann wurde abgebaut. Personal und Infrastruktur. Irgendwann waren sie nur noch etwa 180.000 Militärs. Dann überfiel Putin die Ukraine, Scholz rief die Zeitenwende aus, und plötzlich gab es 120 Milliarden Euro Sondervermögen. Aber was nützt das ganze Geld, wenn man keine Leute hat. Heutzutage wolle jeder Leute.

Verteidigungsministerium, ich komme

Da ist er endlich, der berühmte Fachkräftemangel! Ich wittere ungeahnte Chance: NATO-General, Generalinspekteur, Verteidigungsminister! Ich erläutere dem Messefeldwebel kurz meinen Fall: Journalist, 57 Jahre, beruflicher Neuanfang, wacher Geist, müde Knochen.

Er schüttelt bedauernd den Kopf. Zeitenwende hin oder her, in dem Alter sei nun wirklich nichts mehr zu machen. Weder auf dem Felde, noch in der Luft noch zu Wasser. Er selbst gehe ja schon mit 54 in Rente. "Was!", rufe ich aus und bin so geschockt, dass ich nicht ausrechnen kann, seit wie vielen Jahren ich dann schon in Pension wäre und Orden polieren könnte.

Der Messefeldwebel ist ein guter Mann. Er will mich nicht in triste Perspektivlosigkeit entlassen. Es gebe ja auch noch zivile Jobs bei der Bundeswehr, sagt er. Ärzte zum Beispiel. Oder Truppenseelsorger. Ich solle einfach mal auf ihrer Website unter "Karriere" nachschauen, vielleicht sei ja was für mich dabei. Nun bin ich wieder etwas beruhigt. Schließlich war mein Urgroßvater Missionar. Als Seelsorger wäre ich sicher gut.

Improvisiertes Studio für Bewerbungsfotos

Ich mäandere ein wenig durch die Gänge, staube hier ein paar Gummibärchen ab, dort ein par Kugelschreiber, man gerät ja schnell in so eine Art Fieber. Nirgendwo merkt man mehr als auf einer Messe, dass der Mensch von Jägern und Sammlern abstammt. Und gerade auf einer Jobmesse geht's ja ganz schnell ums nackte Überleben. Die Bewerbungsmappe ist das Schutzschild gegen die anbrandende Leere des Universums.

Zauberwelt Marktwirtschaft

Am Stand von Rheinmetall preist eine sehr junge Frau sehr jungen Männern die Zukunftsicherheit der Rüstungsindustrie an. Im Hintergrund steht: "Taking responsibility in a changing world." Nebenan lerne ich, dass die Bahn eine eigene Zeitarbeitsfirma hat und Edeka eine eigene Bank. Wie erfindungsreich die freie Marktwirtschaft doch ist! Alles richtet sich immer ganz automatisch zu Besten. Vielleicht sollte Rheinmetall noch ein Beerdigungsunternehmen gründen.

Junge Menschen am Scheideweg: Regenbogentasche oder doch lieber Kriegsgerät?

Vor dem Ikea-Stand steht ein junger Mann mit seinen Eltern. Die Mutter hält sorgfältig eingetütete Bewerbungsunterlagen parat. Das alles ist so ergreifend, dass ich fast weinen muss. Aber ich reiße mich zusammen. Ich muss unbedingt lernen, mit unkontrollierbaren Emotionen umzugehen. Schließlich bin ich ja schon bald Truppenseeelsorger. Und dann muss ich dauernd unseren armen Verteidigungsminister trösten, wenn er es wieder einmal nicht geschafft hat, Bundeskanzler zu werden. Diese bevorstehenden Herausforderungen geben mir wieder Kraft, und ich schlängele mich entschlossen an der Mutter mit den Bewerbungsunterlagen vorbei.

Ein Lächeln für die Kolleg:Innen von morgen

Der T-Shirt-Trick

Ich stoße auf den Stand eines Hamburger Webhosters. Na, so ein Zufall! Wollen wir doch mal sehen, wie offen die junge Digitalwirtschaft wirklich ist. Zum Glück habe ich unter meinem warmen Flanellhemd mein Debian-GNU-Linux-Fan-T-Shirt an. Ich knöpfe das Hemd auf und bringe das dynamische Debian-Logo zur Geltung. Dann schnappe ich mir den Gründer, der gerade ein paar Tüten Gummibärchen ans Volk verteilt.

Ich ziehe ihn beiseite und preise meine Talente an. Eigentlich sei ich ja Journalist und hätte mit Web-Servern nichts am Hut. Aber seltsamerweise hätte ich diesen Open-Source-Tick und würde seit Jahren meine Familie dazu zwingen, sich auf allen Heimcomputern mit Linux herumzuquälen. Er lächelt verständnisvoll. In seinem Rücken stehen zwei Linux-Standardwerke. Habe ich alles schon abgecheckt.

Ich prahle damit, dass ich mir gerade ein Blog mit integrierter Newsletter-Funktion auf einem Mietserver eingerichtet hätte. En passant lasse ich durchblicken, dass ich KI für überschätzt halte und gebe zu Verstehen, dass ich meine eigene Intelligenz immer noch für zuverlässiger halte als jedes künstliche Produkt aus dem Silicon Valley oder dem chinesischen Perlflussdelta.

Das Gummibärchen-Manöver

Schließlich entreiße ich ihm forsch lächelnd eine Gummibärchentüte und frage ihn geradeheraus, ob er nicht einen Job für mich hätte. Und zwar einen guten. Dabei sage ich ihm nicht direkt, dass mir mindestens eine Position in der Geschäftsleitung vorschwebt, gebe aber zu verstehen, dass ich jetzt nicht den Sonntagsdienst in seiner Service-Hotline übernehmen will. Ich habe genug Berater in meinem Leben gesehen. Ich weiss, dass jetzt nicht der Moment für falsche Bescheidenheit ist.

Der junge Mann ist nicht umsonst Gründer. Statt mich als nervigen Messe-Blender abzufertigen, gibt er mir sofort das Gefühl, dass in seinem Unternehmen nichts dringender benötigt wird als meine mannigfaltigen Talente. Er gibt mir zu verstehen, dass noch einmal alles möglich ist. Natürlich nicht sofort an diesem Ort hier. Solche Messen sind schließlich etwas für Berufsanfänger und nichts für Profis wie uns beide. Er nimmt meine Daten auf und sagt, er würde sich melden. Dann gibt er mir noch eine Tüte Gummibärchen und schiebt mich in den Gang hinaus. Elon Musk, zieh dich warm an!

Die schönsten Helme hat immer noch die Bundespolizei

Die Polizei Hamburg zerstört all meinen Optimismus sofort wieder. Man gibt mir zu verstehen, dass ich mit 57 einfach zu klapprig sei, um Verbrecher durch den Hafen zu hetzen. Mein Verweis auf den gelenkigen Schimanski fruchtet nicht.

Kein Patrouillenboot für dich!

Auch bei der Bundespolzei sieht es nicht besser aus. Als der wachhabende Ordnungsmann sieht, wie ich mit sehnsüchtigem Blick ein Foto eines Patrouillenboots der Küstenwache betrachte, sagt er einfühlsam: "Ich will ihnen ihre Träume nicht nehmen, aber dafür ist es leider zu spät." Zum Trost darf ich den schönen Schutzhelm fotografieren, den ich schon von zahlreichen Hamburger Demos kenne. Auch der Zoll ein paar Meter weiter hat leider keine Verwendung für mich.

Der Zoll fahndet nach jungen Talenten – die alten fallen durchs Raster

Beim Spielcasino Schenefeldt sieht's wieder besser aus. Sehr viel besser! Der freundliche Personalmann aus der Mutterzentrale der Spielbanken Schleswig Holstein sagt mir, dass ich problemlos als Poker-Dealer bei ihm einsteigen kann. "Wieviel?", knurre ich wie Al Pacino in Martin Scorseses "Casino". "15 Euro die Stunde", erwidert er. Aber mit den späten Arbeitszeiten kämen schnell steuerfreie Zuschläge hinzu, das alles sei sehr attraktiv. Ich müsste nur freundlich sein und einigermaßen gut kopfrechnen können. Aber das sei ja sicher kein Problem.

Ich bewahre strategisches Schweigen. Mein Bluff beeindruckt ihn. Er flüstert mir zu, es gebe bald eine Einführungsveranstaltung. Im Frühjahr, setzt er verschwörerisch hinzu. Dort könne man sich in aller Ruhe ein Bild verschaffen. Danach begönne eine mehrwöchige Ausbildung, an deren Ende man Pokern könne. Ich frage nach Aufstiegschancen, denn ich weiss, dass Ehrgeiz im Kapitalismus keine Sünde ist. Er sagt, nach dem Pokern könnte ich noch Black Jack lernen, danach Roulette. Dann beherrsche man die drei Königsdisziplinen der "Lebendspiele". So nennt die Glücksspielbranche alle Vergnügungen, an denen ein Croupier beteiligt ist.

Unterschätzte Schulung im Spielcasino

Ich frage ihn, wie ich mir sein Casino vorstellen müsse. Als einen sündig eleganten Ort, wo man bei einem gepflegten Drink in flauschigen Samtsesseln versinkt und unbemerkt Haus und Hof verspielt? Nun schaut er streng und sagt, es komme im Casino nicht aufs Gewinnen an, sondern auf den geselligen Moment. Außerdem erhielten alle Mitarbeiter eine Schulung, die es ihnen ermögliche, Spielsüchtige sofort zu erkennen.

Woran man denn einen Spielsüchtigen erkenne, frage ich. Dass er immer höhere Summen setzen wolle und dabei anfange, sehr stark zu schwitzen, sagt er. Seine Ausbildung scheint mir Hand und Fuss zu haben, und ich verspreche, mich für die Einführungsveranstaltung anzumelden. Dann verabschiede ich mich vom Casino-Mann.

Frohgemut verlasse ich das zackige Cruise-Center. In den letzten Stunden war ich U-Bahn-Fahrer, Truppenseelsorger, Cyber-Millionär und Poker-Dealer mit Ausblick auf eine strahlende Karriere als Roulette-König. Keine schlechte Ausbeute für einen Samstagsausflug. Folgerichtig steht nun eine strahlende Sonne an winterblauem Himmel. In bester Laune spaziere ich die Elbe entlang. Die Welt erscheint mir voller Chancen. Man müsste sie nur ergreifen. Wenn das bloss nicht immer mit so viel Arbeit verbunden wäre. Aber zum Glück ist ja jetzt erst mal Wochenende.

Wochenende am Hafen!

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By Stephan Maus