Eppendorfer Moor

Eppendorfer Moor
Zwillinge

Exerzitien. Weihnachtsspaziergang. Ich wandere mit Frau und Kind durch urbanes Niemandsland. Auf frostzerfressenen Wegen entlang an Nicht-Orten, jenen gesichtslosen Plätzen, die Marc Augé ethnographierte. Die Gehsteigplatten zerklüftet wie Caspar David Friedrichs „Eismeer“.

Zwischen Pit-Stop und Car-Glass zerfällt ein Königreichssaal der Zeugen Jehovas. An einer Bushaltestelle warten Kriegsflüchtlinge aus dem Kongo unter einem Schild: „Nur Ausstieg“. Über regennassem Asphalt leuchtet das Firmenschild von Maler Platow. Es zeichnet die reine Idee des Sonntagsnachmittags-Blues in den sich schnell verdunkelnden Himmel.

Mich rührt, wie der Mensch versucht, an Kreuzungen von vierspurigen Flughafenzubringern so etwas wie Heimeligkeit herzustellen: Simulationen von Almhütten und Spessart-Wirtshäusern umzingelt von Matratzen-Outlets.

Mit Frau + Kind unter einer Autobahnunterführung herzuspazieren, stärkt den Geist und wirft die ganze Familie radikal ins Hier und Jetzt. Wir spüren die Brise der Gegenwart, die hier belebender wirkt als ein Wintersturm, der die Wuthering Heights eines Amish-Idylls umtost.

Wir lenken unsere Schritte ins Moor zwischen zwei Stadtautobahnen. Zwischen sturmgefällten Birken leuchtet eine Kleingartenkolonie hervor. Wohnt auf Parzelle 183 Martin Heideggers Enkel? Oder hält dort schon seit Monaten der Sandkrug-Mörder eine Minderjährige gefangen? Schreibt in jener sturmschiefen Bretterbude aus Euro-Paletten ein entzündeter Geist eine sirrende Hymne auf betaggte Stromkästen im Vogelschutzgebiet?

Auf solchen Wanderungen ist mein Geist erst entsetzt, in welch verwüstete Gegenden uns das Schicksal verschlagen hat. Doch schon bald hebt er sich in Heiterkeit über die Misere. Im forschen Voranschreiten freue ich mich, dass es auf dieser Welt wohl keine Wüstenei gibt, in der ich nicht heimisch werden könnte. Ich bin und bleibe Kulturfolger. Wie die Krähe.