Tour: Vom Elbtower in die Wildnis
Orientierung
Windkanal
Wintertag. Minus zwei Grad. Am Nordufer der Norderelbe ragt der Rumpf des Elbtowers in eisblauen Himmel. Seit der Benko-Insolvenz ruht die Baustelle. Von ursprünglich sieben Baukränen stehen nur noch zwei. Und der nördliche ist auch schon zur Hälfte abmontiert. Sein unterer Teil ist fest an Stützpfeiler des Rohbaus montiert. Sicher ist sicher. Es ist windig hier am Nordufer der Norderelbe, wo der Wind über dem breiten Fluss kilometerweit ohne jedes Hindernis Geschwindigkeit aufbauen kann.
Das hier ist Pioniergegend. Investorenparadies. Und der Elbtower steckt im Elb-Schlamm wie ein riesiger Grenzpflock, den der Gott des Gewinnstrebens, der Hybris und der Großmannssucht, Georg Heyms wilder Gott der Stadt, mit wutgeballter Faust hier ins äußerste Ende der Hafencity gerammt hat: "Bis hierhin gehört alles mir. Dahinter kommt der Speckgürtel. Noch ist der für die armen Schlucker. Aber bald werde ich den auch aussaugen."
Um den Tower herum verwandeln sich immer mehr alte Fabriken und Schuppen in angesagte Adressen. In einer ehemaligen Lagerhalle am Billhafen im denkmalgeschützten Backstein-Ensemble Brandshofer Deich befindet sich das Gourmetrestaurant "100/200" von Thomas Imbusch und Sophie Lehmann, das 2022 seinen zweiten Michelin-Stern erhielt. Im Nachbar-Gebäude haben sich trendige Büros niedergelassen.
Drüben bei der Brandshofer Schleuse kauert sich eine alte Tankstelle und eine KFZ-Prüfstelle unter die hohe S-Bahn-Brücke. Hier treffen sich Autoliebhaber aus der ganzen Stadt mit ihren Oldtimern. Lange war der Ort ein Geheimtipp. Doch seit der Radweg entlang am Oberhafenkanal eröffnet wurde, sitzen hier immer öfter verschwitzte Rennradfahrer in schicker Trainingskleidung zwischen den zotteligen Schraubern. Währen draußen ein alter Chevrolet gerade bullernd seine Abgase ein Messgerät schickt, zögern zwei Radler zwischen "Flat White" oder "Matcha Latte".
Aber nur wenige Schritte weiter ist wieder wildes Terrain. Aus dem Hof eines Reifenhändlers dringt treibende Musik. Einfach nur Garagenbeschallung? Oder befindet sich dort eine Geheimlocation, wo sich gerade die Clubnacht in den Tag hineinzieht.
Graffiti-Meisterwerk
In einem nahen Hinterhof hat der wohl gerade beste Sprayer der Stadt sein jüngstes Meisterwerk hinterlassen. Vor einem Jahr fing es an, damals sah man seine markanten Maskenköpfe mal hier und dort vereinzelt in der Stadt. Und nun gestaltet er schon riesige, ineinander verschlungene Fresken. Irgendwann werde ich recherchieren müssen, wer das eigentlich ist. Oder Ihr sagt ihm mal Bescheid, dass er sich bei mir melden soll. Am besten noch, bevor er in irgendwelchen schicken Londoner Galerien hängt. Ich würde nämlich gerne einmal mit ihm auf Tour gehen. Sagt ihm einfach, der Flaneur möchte ihn sprechen.
An der Brandtorschleuse liegt ein alter Lastenkahn im Wasser und transportiert nichts als seine eigene Leere, hier und da verziert mit Tau-Arabesken. Etwas weiter östlich liegt ein kleiner Freizeithafen. Über alles spannen sich Autobahn- und S-Bahn-Brücke in schwindelerregender Höhe.
Am Geländer über dem Schleusenbecken ist ein Blechschild mit drei Kabelbindern befestigt. In das Blech ist graviert: "Hier wurde am 23.01.2021 die Leiche von Josef (53 J., obdachlos) aus dem Wasser gezogen." Laut dem Obdachlosenmagazin "Hinz und Kunz" hatte Josef zuvor im Winternotprogramm in der Friesenstraße übernachtet – ganz in der Nähe von hier. Allein im Jahr 2024 sind 25 Obdachlose auf Hamburgs Straßen gestorben.
Rest in Peace, Josef.
Ich gehe Richtung Freihafenbrücke. Über die uralten Schwellen donnern Güterzüge mit ohrenbetäubendem Lärm. Die alte Brücke ist schon so morsch, dass eine Fußgängerseite gesperrt ist. "Einsturzgefahr", warnt die Port Authority auf einem Schild.
Überquert man die alte Brücke, betritt man den kleinen Grasbrook. Rechter Hand liegt das Gelände des ehemaligen Überseezentrums. Als es 1967 gebaut wurde, war es das weltweit größte Verteilzentrum für Stückgut. Als dann 15 Jahre später der Containerhandel aufkam, wurde immer weniger Stückgut umgeschlagen. Schon bald wurde der riesige Schuppen nutzlos.
Am Vorabend der Containerrevolution
Ein sehenswerter Dokumentarfilm des NDR zeigt, wie groß die Euphorie bei Eröffnung war:
Das Überseezentrum wurde an einem Scharniermoment in der Geschichte des Hafens gebaut: In einer Zeit des Übergangs vom Stückgut- zum Containerhafen. Wie die Arbeit vor der Containerrevolution aussah, schildert diese überaus interessante Seite der "Stiftung Historische Museen Hamburg":
Die stillgelegte Halle wurde immer wieder als Film-Kulisse genutzt. Zuletzt drehte hier Fatih Akin seine Adaptation von Heinz Strunks blutiger True-Crime-Crime-Story "Der Goldene Handschuh".
Das geschichtsträchtige Überseezentrum wurde kürzlich abgerissen. Nun wird das ganze Gelände planiert. Auch hier: Investorenparadies. Bald entsteht hier der neue Stadtteil "Grasbrook". Auf einer Landfläche von 47 Hektar werden zwei neue Wohnquartiere errichtet, getrennt durch den Moldauhafen. Im nördlichen Teil wird das Moldauhafenquartier mit etwa 3000 Wohnungen und etwa 16.000 Arbeitsplätze aus dem Boden gestampft. Im Süden entsteht das Hafentorquartier. Das ist der berühmte Sprung über die Elbe, von dem Stadtplaner schon seit Jahren träumen.
Totholz, Lebendholz
Am Elbufer Ufer führt ein holpriger Weg den Holthusenkai entlang. Rechts die Elbe, links eine hohe Hochwasserschutzwand. Am Ende der Promenade voller Schlaglöcher liegt ein massiger Balken quer zum Weg, 50 x 50 Zentimeter. Aus dem morschen Holz wächst eine junge Birke. Sie nährt sich von dem verrottende Holz. Birken können das. Ihre Silhouette ist buschig, mehr Strauch als Baum. Aber gut, sie wird schon wissen, was sie tut.
Diese Birke markiert den Beginn einer geheimen Wildnis. Hier unten hat sich die Natur in den letzten 50 Jahren das äußerste Ende der Landzunge am Veddelhöft wieder zurückerobert. Wo noch in den Siebziger Jahren Kisten und Säcke voller Stückgut verladen wurden, wachsen heute Pionierbäume zwischen den Schienen. Dichtes Brombeergestrüpp erschwert den Zugang zu dem schmalen Wildnisstreifen. Trotzdem rein!
Kaum ein Durchkommen. Zumindest nicht, ohne sich die Jacke zu zerreißen. Mist! Inzwischen ist es dämmrig geworden. In kaltem Abendhimmel steht ein fast kreisrunder Mond. Im Süden schimmert das Wasser des Moldaufhafens durchs Gestrüpp.
Kormoran
Von dort dringt das Schnattern von Tausenden von Wasservögeln herüber. Dringt man in weiter das Gestrüpp vor, schimpfen erst ein paar Elstern. Knackt und raschelt man dann unbeirrt weiter, fliegen Hunderte von Krähen schimpfend von ihren Schlafplätzen auf. Und schließlich stieben sämtliche Vögel im Moldauhafen in schwarzen Wolken in die Höhe, kreisen über den dunkelblauen Himmel und suchen nach neuen Plätzen.
Im Wasser stehen hohe Holzpfähle, an denen früher die Schuten festmachten. Auf einem sitzt ein Kormoran im blaurosa Abendlicht und lässt kehlige Schnatterlaute ertönen. Es klingt wie ein wehmütiger Abschiedsgesang. Bald wird das alles hier gerodet, planiert, zugeschüttet und neu bebaut. Dann ist hier Stadt.