Der Flaneur - Newsletter #4 - 05/2025

Der Flaneur - Newsletter #4 - 05/2025
1.-Mai-Demo, Hamburg Winterhude, 2025

Moin!

Willkommen zum vierten Newsletter meines Hamburg-Blogs "Der Flaneur".

Thank you, British Antifa!

Danken wir zuallererst den britischen Soldat:Innen, die heute vor genau 80 Jahren die Nazis in Hamburg niedergerungen haben. Ehren wir ihren Sieg, indem wir jeden Anflug von Faschismus tagtäglich im Keim ersticken.

Apropos: Man kann übrigens die AfD verbieten und gleichzeitig ihre Ursachen bekämpfen. Und gleichzeitig kann man sogar auch noch damit aufhören, selbst homophobe, unsoziale, menschenverachtende, rassistische und völkische Politik zu machen. Alerta!

Mit Rechtsextremen reden: Britischer Cromwell-Panzer vor der Neuen Elbbrücke in Hamburg, 03.05.1945

Protokoll

Ich duze Euch ab jetzt einfach mal, ok? Wir sind hier ja schließlich nicht im Überseeclub. Wir kennen uns ja jetzt auch schon seit vier Ausgaben. Da kann man ruhig etwas vertraulicher werden. Außerdem habe ich zuverlässige Informationen aus Abonnent:Innen-Kreisen zugespielt bekommen, die besagen, dass bei kontinuierlicher Siezerei in diesem Newsletter eine Entfremdung vom "Flaneur" eintrete. Und gegen jede Art von Entfremdung wollen wir hier ja gerade anschreiben.

Der "Flaneur" soll schließlich Euer freundlicher Begleiter sein, ein zwanglos plaudernder Kompagnon, der Euch ein bisschen Wärme spendet im kalten Großstadtleben.

Es wäre allerdings durchaus zu überlegen, ob wir hier nicht auch irgendwann einmal ein hochexklusives Postfach einrichten, wo zahlkräftige Premium-Mitglieder dann all ihren Kummer abladen können, den ich dann mit meiner gesammelten Lebensweisheit behandele. Schließlich haben alle Qualitätsmedienseiten herausgefunden, dass Lebenshilfe eine der letzten Goldgruben im Internet ist. Deswegen haben inzwischen führende Feuilletonist:Innen eigene Lebenshilfe-Kolumnen. Hier z.B.:

SZ-Magazin-Kolumne: Gute Frage – SZ-Magazin
Jede Woche beantwortet Johanna Adorján eine Frage eines SZ-Magazin-Lesers.

Und man kann nie wissen, ob meine unermüdlich und reichhaltig sprudelnden legalen und illegalen Einkommensquellen nicht doch irgendwann einmal versiegen werden und ich nicht nach neuen "Erlösmodellen" (Carsten Maschmeyer) suchen muss, um mein kostspieliges Sockenabo bezahlen zu können.

Wer hat, der gibt

Sicher ist Euch schon aufgefallen, dass in meinen Veranstaltungstipps ziemlich oft irgendwelche Demos aufgeführt sind. Das kommt daher, dass ich einfach sehr gerne demonstriere. Für mich sind Demos immer noch die intensivste Form von Stadtspaziergängen. Man läuft nicht irgendeinem Fremdenführer mit Lidl-Regenschirm hinterher, sondern einem bunten Lautsprecherwagen, der gerade den Demo-Kracher "Man in Finance" spielt. Außerdem kommt man an die frische Luft, tauscht sich mit Menschen aus, darf mitten auf der Strasse laufen, wird dabei nicht überfahren und kann so eine ganz neue Perspektive auf die Stadt einnehmen. Herrlich. Und mit ein bisschen Glück kann man am Ende die neuesten Einkesselungstaktiken der Sicherheitskräfte studieren.

Superreiche? Superscheiße!

Besonders gelungen war in den vergangenen Monaten die Erste-Mai-Demo der Initiative "Wer hat, der gibt". Das Motto: "Superreiche? Superscheiße! Her mit unseren Milliarden." Im Grunde ging's um Enteignung, aber erst einmal auf rein theoretischem Niveau, praktisch als freundliche Diskussionsgrundlage und höflich vorgebrachter Denkanstoß. Noch wurde niemandem der Porsche-Schlüssel entrissen.

Konzerne first

Die Route war ausnehmend gut gewählt, denn sie führte durch Winterhude und Uhlenhorst. Beides Stadtteile, die nicht etwa aus organischem Wachstum hervorgegangen sind, sondern aus reiner Spekulation.

Die Demo startete an der U-Bahn-Station Sierichstrasse. Letztere ist benannt nach Adolph Sierich, einem Juwelierssohn, der seinen ererbten Reichtum mit Bodenspekulationen vermehrte. Im dörflichen Winterhude kaufte er ab etwa 1850 die umliegenden Sumpfwiesen, ließ sie trockenlegen, schaffte Infrastruktur, indem er Brücken und Straßen bauen ließ. Dann wartetet er, bis es den reichen Kaufleute in der Innenstadt zu eng wurde. Es dauerte nicht lange, bis er seine Grundstücke mit sattem Gewinn wieder verkaufen konnte. So entstand eine von Hamburgs besten Wohnlagen, die allerdings auch eine der gefährlichsten ist, wenn man sie nicht mit einem locker über die Schultern geworfenen marineblauen Cashmere-Pullover durchquert.

Ähnlich entstand auch Uhlenhorst, nur, dass es hier ein Konsortium aus gleich mehreren Spekulanten war, die Grund und Boden an die Reichen aus der Innenstadt verkauften: August Abendroth, Adolph Jencquel und Carl Heine.

Historisch gesehen war es also durchaus folgerichtig, den Damen und Herren auf den Balkonen in Winterhude und Uhlenhorst am 1. Mai ein Ständchen zu bringen und ihnen freundlich vorzusingen: "Wer hat, der gibt, wer nicht gibt, wird enteignet." Der Polizeibegleitung lag übrigens ein besserer Betreuungsschlüssel zugrunde als allen Kitas dieser Stadt. Ich sag ja nur.

Polizeikette vor dem Hotel Atlantic

Jesus in Blankenese

So, genug geplaudert! Mai-Demo hin oder her, letztlich leben wir in einer Leistungsgesellschaft, und da stellt sich natürlich die Frage, was ich überhaupt gemacht habe im vergangenen Monat. Habe ich immer nur nichtsnutzig herumdemonstriert und mit kindischen Revoluzzerposen kokettiert? Oder habe ich auch wirklich mal was Anständiges geleistet, das mir mit ein bisschen Glück und einer guten Portion Steuerkriminalität dereinst mein Häuschen an der Alster finanzieren könnte?

Ich würde sagen: Durchaus! Eine Forschungsexpedition in Sachen Sozialneid führte mich zum Beispiel in die gleißend weißen Elbvororte. Denn in meinem nähren emotionalen Umfeld ergab es sich, dass ein gewisser Überdruss an Stadtspaziergängen durch staubige Industriebrachen, lärmende Ausfallstraßen und abgelegene Hafenschlickdeponien herrschte. Also haben wir mal einen Ausflug nach Blankenese gemacht.

Einerseits durchaus schön anzusehen, andererseits auch schockierend. Was ich dort gesehen habe, schien mir so absurd, dass ich tatsächlich noch einmal zu einer weiterführenden Tiefenrecherche hingefahren bin – zufälligerweise genau zum Blankeneser Oldtimertreffen. Daraus entstand die Kurzgeschichte "Jesus in Blankenese". Meine Familie fand es etwas größenwahnsinnig, aus der Perspektive unseres Heilands zu schreiben, aber urteilt selbst:

Jesus in Blankenese
Er saß in der S-Bahn nach Blankenese. Die Frau auf dem Vierer nebenan schaute ihm verstohlen auf die Hände. Es war ihm peinlich. Hastig zog er seinen Fleece-Pullover über die Hände, so dass man seine Wundmale nicht mehr sah. Neugierig schaute er nach draußen. Blühende Bäume: Kirschen, Weiden, Weißdorn. Ok,

Der Text ist die zweite Folge einer kleinen Serie von Kurzgeschichten über Hamburger Stadtteile. Die erste handelte von Eppendorf. Hier ist sie:

Eppendorf Blues
Endlich. Er hatte einen Parkplatz gefunden. Sollte noch mal einer sagen, das Leben in Eppendorf sei einfach und sorglos. Eine halbe Stunde war Peter im Kreis gefahren. Als der klapprige Landrover unter der Hochbahntrasse zum Stehen kam, schaukelte der Traumfänger am Innenspiegel noch lange nach. Endlich wieder zuhause. Peter warf

Gerade beim Schreiben fällt mir auf, dass der Ostermonat April mich offensichtlich spirituell ziemlich aufgewühlt hat. So verspürte ich am Karfreitag den dringenden Wunsch, in eine Kirche zu gehen. Was ich dort erlebt habe, habe ich in dieser ziemlich theologischen Reportage beschrieben:

Osterwunder: “Jesus-Passion” von Oskar Gottlieb Blarr
Karfreitag. Wenn die halbe Welt an den Tod des Heilands erinnert, kann ich nicht auf dem Sofa sitzen bleiben. Bei großen gesellschaftlichen Ritualen möchte ich immer auch ein bisschen teilhaben an 2000 Jahre Geschichte des Abendlandes. Ich habe dann immer irgendwie Angst, etwas Großes oder Heiliges zu verpassen. Sakral-FOMO. Also

Außerdem hat mich der Tod des Papstes noch zu einer Aktualisierung von Robert Harris' wunderbarem Schmöker "Konklave" inspiriert. Unter uns: Ich hätte nie gedacht, dass mein Arbeitgeber diese Kurzgeschichte veröffentlichen würde. Deswegen dachte ich, ich könnte sie Euch kostenlos auf dem "Flaneur" zur Verfügung stellen – auch wenn es etwas schwierig gewesen wäre, einen Hamburg-Bezug herzustellen. Aber irgendwie hat der "stern" die Kurzgeschichte dann doch noch in sein Programm genommen. Manchmal sind die Ratschlüsse einer Redaktion ähnlich rätselhaft wie die des päpstlichen Konklaves.

So kommt es, dass die Kurzgeschichte nun leider hinter einer Bezahlschranke steht. Da mir keine Lösung eingefallen ist, Euch diesen Text irgendwie umsonst zukommen zu lassen, ohne meinen Job zu riskieren, verlinke ich einfach mal darauf (paid content, sorry).

Intrige im Vatikan: Wie Trump die Papstwahl kontrollieren könnte
Der Papst ist tot und “Konklave” damit der Film der Stunde. Leider hat sich die Welt seit dem Dreh verändert. Zeit für ein Update: ein packendes Mini-Drama im Hollywood-Stil.

Flanier-Termine im Mai

Hier kommen die Veranstaltungen, die ich mir für die kommenden Wochen notiert habe. Vielleicht schreibe ich über die eine oder andere. Und vielleicht treffen wir uns ja bei einem der Termine da draußen. Würde mich sehr freuen!

Peinlicher Abendspaziergang für Peggy Parnass
Ich habe keinen Nannenpreis. Ich war noch nie beim Arthur-F.-Burns-Dinner. Ich saß immer in irgendwelchen alten Berliner Fabriken irgendwo ganz hinten zwischen Tontechnikern und Lokalreportern aus dem Sauerland und habe gestaunt, wie ein strahlender Relotius einen Reporterpreis nach dem anderen abräumte. Dirk Kurbjuweit würde mich auf keiner Party erkennen.
  • 04.05.25, 17:00 Uhr
    Bernadette La Hengst, musikal. Lesung
    Hafenklang, Goldener Salon, Große Elbstraße 84
  • 05.05.25, 19:00 – 21:00 Uhr
    Helga Melmed: "I can forgive, but never forget"
    Generation talk with concentration camp survivor Helga Melmed and members of her family. LichtwarkTheater, Holzhude 1, Bergedorf
    S.a.: https://koerberhaus.de/veranstaltungen/i-can-forgive-but-never-forget-389d1ee4/datum:05-05-2025-19-00-05-05-2025-21-00
  • 08. – 11.05.25 & 15. – 18.05.25
    Performance: "Ligna. Wunder von Hamburg. Wallfahrt zum Elbtower und anderen Bauruinen", Kampnagel
    Programm: https://kampnagel.de/produktionen/ligna-das-wunder-von-hamburg
  • 06. – 07.05.25
    OMR: Digitalmarketing-Messe
    Eine Art Frühjahrsdom für Quatschfluencer. Jahrmarkt der Eitelkeiten des Digitalkapitalismus. Letztes Jahr war sogar Kim Kardashian vor Ort. Da vergeht mir grad die Lust nachzuschauen, wer dieses Jahr kommt. Müsst Ihr mal bitte eben selber schauen: https://omr.com/de
  • 09. – 11.05.25
    Hafengeburtstag
    Mit den Klassikern Einlaufparade, Schlepperballett, Auslaufparade. Abschließend Feuerwerk und Fischbrötchen-Weitkotzen. Special Guest: Der Geist von Hans Albers und Nina Chuba ("Powered by AIDA"! Stell dir vor, du bist Popstar und lässt dich von einem bescheuerten Kreuzfahrtschiff "powern".)
  • 10.05.25, 13:00 – 20:00 Uhr
    Asphaltsprengerfestival
    Alster-Bille-Elbe-Parks, Bullerdeich 6
    Programm: https://www.asphaltsprenger.de/
    Wunderbarer Ort, wunderbares Urban-Gardening-Festival, klare Empfehlung.
  • 11.5. – 06.06.25
    Literaturfestival: "Hamburg liest die Elbe"
    Programm: https://hamburgliest.de/programm/
  • 16.05.25, 19:00 Uhr; 20.05.25, 20 Uhr
    Theater: „Zur Person: Hannah Arendt“
    Malersaal, Schauspielhaus, Karten: https://schauspielhaus.de/stuecke/zur-person-hannah-arendt
  • 18.05.25, 12.00 Uhr
    Fahrraddemo nach Moorburg. Protest gegen den Bau der A26 Ost mit anschließendem Moorwalk von "Nabu", "Bund" & "Moorburg Forever"
    Abfahrt: Landungsbrücken 6 (am St. Pauli-Elbtunnel)
  • 18.05.25, 15:00 Uhr
    Gedenkveranstaltung: 80 Jahre Todesmarsch Hamburg – Kiel
    Am Freilichtmuseum, Hamburger Landstr. 97, 24113 Molfsee
    https://www.heimatbund.de/termine/gedenken-80-jahre-todesmarsch.html
    Im April 1945 wurden etwa 800 Häftlinge zu Fuß vom Hamburger Gefängnis Fuhlsbüttel nach Kiel getrieben. Darunter waren neun Häftlinge, die von der SS erschossen wurden, weil sie nicht weitermarschieren konnten. Kein Vergessen!
  • 24.05.25
    Flohmarkt am Goldbekhaus
  • 24. & 25.05.25
    Stadtfest St. Georg
    Programm: https://www.stadtfest-stgeorg.de/
  • 25.05.25
    Kulturflohmarkt am Museum der Arbeit
  • 30.05.25, 20:00 Uhr
    Lesung: Rebecca Spilker: "Mega!" Ventil-Verlag, 175 S., br., 18 €
    Centralkomitee
  • 31.05.25
    Eppendorfer Landstraßenfest
    Beste Gelegenheit, die seltsame Spezies der Segelschuh- & Anita-Hass-Schickeria zu studieren.

Bullshit des Monats

Der größte Unsinn gleich nach dem hirnrissigen Ufo-Döner ist die gottverlassene Aperol-Spritz Handtasche, die im italienischen Restaurant "Prego" in der Hamburger Innenstadt auf der Karte steht: https://menu.prego-hh.de/categories/spritz
Für 60 Euro kann man eine Handtasche aus Glas (!) bestellen, die 1,2 Liter von dem Trend-Getränk aufnimmt. Damit kann man dann z.B. übers Eppendorfer Landstraßenfest wackeln oder in Winterhude bei der nächsten 1.-Mai-Demo schlürfend vom Balkon winken. Manchmal ist die Welt noch bekloppter als Shirin David sie sich überhaupt auch nur je vorstellen könnte: "Iced Spritz im Täschchen, zu spät beim Pilates / Küsschen links, Küsschen rechts, ich trag heute was Scharfes."

Schluss & Gruß

Über Leser-Feedback oder Flanier-Tipps freue ich mich übrigens immer sehr. Schreibt mir! Ich beantworte jede Zuschrift. Einfach auf "Antworten" drücken!
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Ich wünsche Euch einen schönen Mai! Ihr hört dann wieder von mir im Juni!

Herzliche Grüße
Stephan

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