Jesus in Blankenese

Jesus in Blankenese
Church of Rolls-Royce

Er saß in der S-Bahn nach Blankenese. Die Frau auf dem Vierer nebenan schaute ihm verstohlen auf die Hände. Es war ihm peinlich. Hastig zog er seinen Fleece-Pullover über die Hände, so dass man seine Wundmale nicht mehr sah.

Neugierig schaute er nach draußen. Blühende Bäume: Kirschen, Weiden, Weißdorn. Ok, das war ihm vertraut. Der Rest war ihm fremd. Lange her, dass er auf Inspektion war. Ehrlich gesagt, war er seit seinem ersten Pfingsten überhaupt nicht mehr hier unten gewesen. Jetzt hatte ihn die Obere Behörde auf Tour geschickt, damit er prüfe, ob das Land seine Bewährung bestünde. Genau vor zehn Jahren hatten viele geflüchtete Menschen um Aufnahme in dem reichen Land gebeten, das genau 80 Jahren zuvor vom Faschismus befreit werden musste. Es war wie eine Reifeprüfung gewesen. Nun sollte er kontrollieren, wie sich das Land seitdem entwickelt hatte. Und gegebenenfalls Maßnahmen einleiten.

Die Obere Behörde hatte Blankenese als eine der Stichproben ausgesucht, weil es hier 2016 einen überaus unerfreulichen Zwischenfall gegeben hatte: Die Bewohner eines der reichsten Viertel Deutschlands hatten damals verbissen gegen den Bau der einzigen Geflüchteten-Unterkunft vor Ort protestiert. Sie hatten sogar die Baustelle blockiert und anschließend vor Gericht gegen die Errichtung von Wohneinheiten für 192 Geflüchtete geklagt. Schließlich hatte man sich geeinigt. Doch der Protest war immer wieder aufgeflammt. Der Ort war auffällig geworden in der Oberen Behörde.

An diesem kalten April-Tag sollte er nachschauen, ob Blankenese noch eine Chance verdient hatte. Wenn es hier auch nur einen einzigen Gerechten gab, sollte Blankenese gerettet sein. Ansonsten Sodom & Gomorrha. Leider gab es in der Oberen Behörde einen Hang zu alttestamentarischen Gerechtigkeitsvorstellungen. Auch dort hatte sich der Zeitgeist geändert. Es gab einen konservativen Backlash. Dagegen konnte er nichts ausrichten. Er hatte es immer wieder versucht. Aber ihm waren die Hände gebunden. Man musste sagen, dass es ziemlich schlecht stand um Blankenese. Man hatte den privilegierten Flecken auf dem Kieker. Doch vielleicht gab es ja noch Mittel und Wege, den Ort zu retten. Er beschloss, sein Bestes zu geben.

Mind the gap

Die Bahn kam in dem alten Sackbahnhof von 1867 zum Stehen. Es fiel ihm schwer auszusteigen. Der Spalt zwischen Zug und Bahnsteigkante schien ihm so unüberwindlich zu sein wie die 2000 Jahre, die ihn von seiner Geburt trennten. Schließlich gab er sich einen Ruck und sprang aus der Bahn.

Er holte tief Luft. Erst einmal zur Kirche. Dort würde er sich zuhause fühlen. Zwischen blühenden Kirsch- und Mandelbäumen sah er die Turmspitze des Gotteshauses hervorleuchten und steuerte zielstrebig darauf zu. Nach einigen Schritten kamen ihm zwei kleine Jungen entgegen. Der eine fuhr Fahrrad, der andere kickte einen Fußball vor sich her. Der auf dem Fahrrad sagte: "Weißt du eigentlich, wie viel so ein Rolls-Royce kostet? 20.000, 80.000, mindestens 400.000 Euro!"

Auf dem Marktplatz vor der Kirche traf er auf eine große Menschenansammlung. Wahrscheinlich war gerade der Gottesdienst zu Ende, dachte er. Vielleicht waren die Menschen doch nicht so gottverlassen, wie es in der Oberen Behörde immer hieß. Voller Wohlgefallen sah er sich um. Er sah sehr viele sehr saubere Autos.

Benzingespräche

"Wo ist die Braut?" fragte er einen Mann in weiten Tweetbermudas, die von Lederhosenträgern gehalten wurden. Der sagte: "Das ist keine Hochzeit. Das ist ein Oldtimertreffen. Das sind die 'Blankeneser Benzingespräche.'" – "Verstehe", antwortete Jesus enttäuscht.

Er schlenderte zwischen blitzenden Autos umher. Vor einem elegant geschwungenen Chevrolet standen zwei Frauen und unterhielten sich. "Ich habe gehört, Ihr wart die letzten drei Monate auf Mallorca." – "Ja, wir wollten eigentlich die ganze Zeit Golf spielen. Aber Rolfs Schulter hat nicht mitgemacht. Also haben wir zusammen eine Darmsanierung gemacht." "Wie romantisch! Wie war es?" – "Danach fühlt man sich wie ein neuer Mensch."

Jesus vernahm es mit Wohlgefallen. Seit Jahrtausenden warteten sie auf den Neuen Menschen. Und nun schien es so weit zu sein. Vielleicht waren sie hier dabei, den Alten Adam hinter sich zu lassen.

Er zog weiter. Neben einem Ford Mustang gestikulierten drei Männer. Auch sie unterhielten sich über Urlaub. Warum machten hier alle immer nur Urlaub? Einer der Männer sagte: "Wir saßen ganz gemütlich am Frühstückstisch, da sahen wir plötzlich draußen einen Hubschrauber niedergehen. Und wer klettert raus? Unser aller Peter!" "Ach", sagte der Zweite, "dann hat es ihn also nach Sankt Moritz verschlagen." Der Dritte sprach: "Ja, er hat hier alles verkauft und sich in der Schweiz niedergelassen." "Recht hat er", sagte der Zweite. "Ich habe auch langsam keinen Bock mehr, meine Steuern für Frauenparkplätze und so eine Scheiße zu zahlen."

Ein paar Schritte weiter stand ein moosgrüner Jaguar. Die Motorhaube stand offen und ragte mit feierlichem Schwung in den blauen Himmel. Eigentlich genau der richtige Wagen für Christi Himmelfahrt, dachte Jesus, erschrak aber sofort über seinen Gedanken. Der Besitzer des Jaguars redete auf einen jungen Mann mit Ralph-Lauren-Cap ein, während dessen blonde Freundin wie betäubt in den polierten Motorblock schaute. Wer putzte bloß all diese Motoren? Hatten diese Menschen dafür Personal?

"Jaguar hätten Sie vor ein paar Jahren kaufen müssen", sagte der glückliche Jaguar-Besitzer. "Jetzt ist es eigentlich zu spät. Inzwischen liegen die bei 100.000 Euro. Fahren Sie denn überhaupt gerne offen?" Der junge Mann antwortete: "Cabrio sollte es schon sein." – "Dann habe ich einen Tipp für sie." Er zeigte auf ein silbernes Auto schräg vor ihm und sagte: "Mercedes 280 SEL. 20.000 Euro. Eines der letzten Schnäppchen."

War dieser väterliche Rat eines erfahrenen Sammlers die Neue Menschlichkeit? War es nicht eine wunderbare Geste, den Jaguar-Markt nicht noch weiter künstlich anzuheizen? War dieser uneigennützige Jaguar-Besitzer ein wahrer Gerechter, der Blankenese retten konnte? Jesus war sich nicht sicher.

Er schlenderte weiter. Ein paar Schritte weiter stand eine Menschentraube um einen cremefarbenen Bentley. Die Besitzerin stützte sich auf den hinteren rechten Kotflügel. Ihre Hand steckte in einem kanariengelben Lederhandschuh. Die elegant frisierte Frau sah aus, als hätte Beltracchi sie aus einem Botticelli-Gemälde herauskopiert. Der Kofferraum der Limousine stand offen.

Auf dem Kofferraumrand saß ein Mittfünfziger mit zerzausten Locken in einem Lederanzug in den italienischen Nationalfarben, der über und über mit Aufnähern der Motorradmarke Aprilia verziert war. Jesus spähte in den Kofferraum. Auf dem Boden standen drei Silbertabletts mit Streuselkuchen, feinsten Patisserien und würzigem Fingerfood. Neben der Limousine war ein weißes Beistelltischen aufgebaut, auf dem Champagner- und Orangensaftflaschen standen.

Kofferraumpredigt

Als sich Jesus dem Bentley näherte, wandte sich der Mann in dem Lederanzug an ihn und hob zu einer Predigt an: "Wir treffen uns hier jeden ersten Sonntag im Monat. Beim ersten Mal waren wir nur 12. Und jetzt schauen Sie sich mal um, wie viele wir jetzt sind! Nicht schlecht, oder? Mich stimmt das hoffnungsfroh. Nicht alle in diesem Land sind Miesepeter und lethargische Neider. Außer den Grünen. Die wollten uns von hier vertreiben. Aber wir haben uns mit zivilem Widerstand durchgesetzt. Wie Gandhi und Martin Luther King. Wir können nicht immer alles mit uns machen lassen. Die sind doch alle irre da drüben in Hamburg. Da zerkratzen sie dir doch einfach so deinen Kotflügel oder reißen dir die Emily von der Rolls-Royce-Kühlerhaube. In der Schanze benutzen die die Kühlerfigur sogar als Flaschenöffner! Wir sind froh, dass wir hier in unserer kleinen Blankeneser Bubble sind. Hier ist es einfach anders. Hier gibt es keinen Klassenhass. Da draußen ist die Gesellschaft doch inzwischen komplett gespalten. Jeder gegen jeden. Das muss man nicht mitmachen. Hier ist die Welt noch in Ordnung. Ich bin weder links noch rechts. Mal fahre ich Fahrrad, mal Auto. Heute bin ich mit dem Motorrad da. Da drüben, die 'Aprilia RSV Mille'. Aber ich habe auch noch einen Oldtimer zuhause. Man muss offen bleiben. Eine Frage der Geisteshaltung. Wichtig ist vor allem das Verhältnis zwischen Händler, Besitzer und Schrauber. Wenn das stimmt, ist das wie eine große Familie. Meinen Sie nicht auch?"

Jesus nickte. Irgendwie erinnerten ihn die Gesichtszüge des Mannes an Pontius Pilatus. Die Bentley-Besitzerin sagte zu Pontius Pilatus: "Fahr bloß vorsichtig. Du weißt, was mit Fietes Sohn passiert ist. Hat sich zu Tode gefahren. Er war noch keine 20. Aber er wollte sterben. Und wenn die Zeit reif ist, dann muss man gehen." – "Der hat sich in die Walhalla katapultiert", sagte Pontius Pilatus und lachte ein raues Lachen.

Die Botticelli-Frau bot Jesus etwas von dem Fingerfood aus dem Kofferraum ihres Bentleys an, doch er lehnte dankend ab. War die Speisung fremder Mitmenschen aus dem Kofferraum einer Luxus-Limousine ein Zeichen wahrer Nächstenliebe? Jesus war sich nicht sicher. Aber unfreundlich waren diese Menschen nicht. Niemand schien den Wunsch zu verspüren, ihn erneut zu kreuzigen. Das sprach doch eigentlich für diese Autoliebhaber.

Pontius Pilatus und der Flügeltüren-Mercedes

Pontius Pilatus hatte inzwischen den Besitzer eines Flügeltüren-Mercedes in ein Gespräch verwickelt und sagte: "Wenn du mal deinen Wagen tauschen willst, sagst du bitte Bescheid. So ein Baby gibt man schließlich nicht in falsche Hände. Sonst kriegt das nachher irgendein Hakan aus der Innenstadt, der sich damit um einen Laternenpfahl wickelt. So ein Auto ist schließlich eine Waffe."

War dieser umsichtige Geist vielleicht eben jener Gerechte, der Blankenese vor der göttlichen Rache würde retten können? Jesus war sich nicht sicher. Der Anblick des Bentley-Kofferraums voller köstlicher Gaben hatte ihn hungrig gemacht. Er ging ins Café nebenan, bestellte einen Bagel und eine Cola und setzte sich auf der Terrasse an einen Ecktisch, von dem aus er das Treiben auf der Hauptstraße gut im Blick hatte.

An seinem Nachbartisch berichtete ein junger Mann einer jungen Frau von seiner Wochenbilanz: "Erst habe ich für 5000 gekauft, dann noch mal für 3000 nachgekauft, und am Ende bin ich mit 500 im Plus rausgegangen." Die junge Frau nickte anerkennend. Der junge Mann fuhr fort: "Ich verstehe Peter nicht. Er hat Tausende Berater, alle haben nur die besten Finanzprogramme, und dann passiert so etwas. Kein Wunder, dass er nach Sankt Moritz abgehauen ist."

Die Kellnerin brachte den Bagel und die Cola. Jesus aß mit kleinen Bissen. Er musste sich die Speisen einteilen. Für die Preise hier unten hatte er nicht genügend Spesen zur Verfügung.

Der junge Mann am Nebentisch hatte das Thema gewechselt. Er war beim Gendern angekommen. "Finde ich okay. Aber Zwang ist nicht in Ordnung. Man muss in allem ein gesundes Mittelmaß halten." Reichte diese Weisheit, um Blankenese zu retten? Jesus hatte seine Zweifel. Dabei würde er diesen Flecken Erde doch gerne retten. Denn hässlich war es hier nicht.

Er zahlte am Tresen und schlenderte durch die Hauptstraße. Er kam an einer Buchhandlung vorbei. Ein Plakat kündigte eine Veranstaltungsreihe an: "Die Dichter der Elbvororte." Die Lesungen zogen sich über Monate hinweg: Hans Henny Jahn, Hubert Fichte, Peter Rühmkorf, Brigitte Kronauer. Als herrschte an diesem Ort ein besonders großes Bedürfnis, von Kunst erlöst zu werden.

Kopulationen auf 10.000-Euro-Küchenanrichten

Vor einem Immobilienmakler, in dem es kein Objekt unter einer Millionen gab, winkte ein Mann in rosa Bermudas, Segelschuhen und menschenverachtender Stepp-Weste fröhlich einem Kind in einem Buggy zu. Jesus wusste nur zu gut, dass er dies nur deshalb tat, um sich der Mutter als ein allzeit paarungswilliger Mann zu erkennen zu geben, ein guter Vater für zukünftige Kinder, die allesamt das Ergebnis zügelloser Kopulationen auf 10.000-Euro-Küchenanrichten sein würden, und denen er jederzeit den Drogenentzug in den allerbesten Privatkliniken des Landes würde zahlen können – so jedenfalls stellte sich der Bermuda-Mann das alles gerade vor, als er sorgfältig ein Lächeln in sein mehrfach retuschiertes Gesicht modellierte.

Jesus spazierte durchs berühmte Treppenviertel. Tatsächlich: Alles voller Treppen hier. Alte Fischer- und Lotsenhäuschen standen neben prächtigen Kaufmannsvillen. In der Briefingmappe hatte er gelesen, dass die Fischereiflotte von Blankenese früher sehr beachtlich gewesen war. Sogar größer als die von Hamburg. Doch heute arbeitete hier niemand mehr mit seinen eigenen Händen. Außer Putzkräfte, Handwerker und Gärtner. Die Einwohner ließen einfach ihr Kapital für sich arbeiten.

Eine junge Frau kam ihm entgegen. Er schaute ihr ins Herz. Und alles, was er sah, waren exquisite Möbel von "Stilwerk" an der Elbchaussee.

Er lenkte seine Schritte auf den Süllberg. Er war nicht mehr in Form. Vom Golgatha würde er heute wohl nur noch die Hälfte schaffen. Dabei hatte er nicht einmal ein Kreuz dabei. Erschöpft ließ er sich oben auf der Terrasse an einem Holztisch nieder. Ihn dürstete, doch er wurde nicht bedient. Obwohl die Kellner unaufhörlich die drei Männer an seinem Nebentisch bedienten.

Geestschlösschen

Vor dem einen lag eine Dokumentenmappe mit dem Logo eines örtlichen Beerdigungsinstituts. Er sagte: "Die alte Hansen oben aus dem Geestschlösschen ist gestorben."
"Wusste ich noch gar nicht," sagte sein Gegenüber, der eine dicke Hornbrille trug.
"Die Familie hat die Anzeige noch nicht raus gegeben", sagte der Beerdigungsunternehmer. "Aber für solche Fälle habt ihr ja auch mich."
"Wir zahlen dir ja auch genug", sagte der Dritte, der seinen marineblauen Pullover locker über die Schultern geworfen hatte.
Der Beerdigungsunternehmer sagte: "Umsonst ist nur der Tod."
"Solltest du dir als Firmenmotto eintragen lassen", sagte die Hornbrille und klopfte mit dem Zeigefinger auf das Logo des Beerdigungsinstituts.
Alle lachten. Dann redeten sie plötzlich hastig durcheinander.
"Wir müssen schnell handeln. Sonst ist die Villa weg!"
"Ich spiele Golf mit dem Sohn der alten Hansen. Man kann gut mit ihm Geschäfte machen. Habe neulich meinen Ferrari gegen seinen alten Rolls-Royce getauscht."
"Dann ruf ihn an und biete ihm 5 Millionen für das Geestschlösschen. Die Familie ist zerstritten. Die sind froh, wenn sie das Ding los sind."
"5 Millionen? Zu teuer für den maroden Schrotthaufen. Außerdem ist da Denkmalschutz drauf."
"Hauptsache, wir kriegen das Ding. Ist doch gut, wenn der Kasten marode ist. Dann verfällt er schneller. Wir lassen ihn zwei Jahre stehen, dann ist er unrettbar vermodert. Dann kann uns kein Gericht der Welt mehr dazu zwingen, irgendwelche Denkmalschutzauflagen einzuhalten."
"Und dann?" fragte der Beerdigungsunternehmer.
"Abriss, sechs Luxus-Penthouses mit insgesamt zwölf Wohneinheiten drauf, fertig ist die Laube."
"Jede Wohnung verkloppen wir für 2 Millionen. Da kommt ein schöner Batzen für uns zusammen."
"Genau wie wir's beim Weißen Haus vom Elbhang gemacht haben."

Sylter Kringel

Jesus verstand, dass er hier nicht bedient werden würde und brach auf. Er ging Dutzende Stufen hinab zum Strand. Dort traf er nur Menschen, die Niedertracht im Herzen trugen, Neid und Vernichtungsgelüste. Die Menschen stolzierten über die Gehsteige, als hätten sie sie in vierter Generation geerbt. Auf der schmalen Straße fuhren Geländewagen einander die Außenspiegel ab. Jesus legte sich seinen Pullover über die Schultern, dann riss er ihn geschockt wieder herunter. Er hatte es getan wie all die anderen hier. Selbst er konnte sich dem teuflischen Sog dieses Ortes nicht entziehen.

Am Verkaufsfenster des Elbstrandlokals "Kajüte S.B. 12" holte er sich ein Bier und setzte sich draußen auf der Terrasse neben zwei Männer, die Pannfisch mit Bratkartoffeln aßen. Die tiefstehende Abendsonne leuchtete in ihren Weißweingläsern. Sie bemerkten ihn nicht. Vielleicht war er inzwischen unsichtbar. Wenn er sich ärgerte, wurde er manchmal durchsichtig.

Von Reedern und Schweißern

Aus dem Gespräch der Männer schloss Jesus, dass der eine der beiden ein Familienreeder war und der andere ein Recyclingunternehmer. Sie feierten die illegale Verschrottung eines alten Containerschiffes auf einem Schiffsfriedhof vor der Küste des indischen Bundesstaates Gujarat. Die beiden hatten dafür gesorgt, dass ein Hamburger Containerschiff namens "Hope" im kleinen Fischerort Alang einfach auf den Strand gesteuert wurde. Mitsamt 1500 Containern voller giftiger Blei-Akkus. Die "Hope" wurde von 300 Arbeitern ausgeschlachtet, Öl & Schwermetalle sickerten in den Sand. Während der Arbeit starben zwei Menschen, als sie von einem wackeligen Gerüst stürzten. Fünf verletzten sich bei Schweißarbeiten. Die beiden Unternehmer bedauerten die Verunglückten. Ihr Gewinn belief sich auf drei Millionen Dollar.

Jesus schaute die Elbe hinab. In einiger Entfernung entdeckte er zwischen den noch kahlen Weidenzweigen ein Schiffswrack, das kopfüber im Sand feststeckte. Für einen kurzen Moment dachte er, er sei auf dem Schiffsfriedhof in Alang gestrandet. Er verstand, dass der indische Fischerort das düstere Spiegelbild des idyllischen Blankenese war.

Er hatte genug. Müde stand er auf und schlenderte zum Fähranleger Op'n Bulln, holte sich an einem der Ponton-Restaurants noch ein Bier, stieg die Treppen hoch zur Aussichtsplattform und setzte sich dort auf eine Bank. Unten erklang eine Schiffsglocke, dann legte die Fähre nach Finkenwerder ab.

Der Ponton schaukelte quietschend. Jesus schaute zu, wie die Sonne langsam über der Elbe versank. Der Geestrücken leuchtete golden. Vor Jahrtausenden hatten Gletscher Geröll vor sich hergeschoben und diese idyllische Hügellandschaft inmitten des platten Umlands geschaffen. Jahrhunderte lang hatte der Mensch darin gearbeitet. Hatten Schiffe gebaut, Netze geflickt, Fische gepökelt.

Dann wurde die Bahnlinie Altona-Blankenese gebaut, und ein enormer Immobilienboom setzte ein. Seitdem waren hier alle nur noch davon besessen, mit Grund und Boden zu handeln. Er hatte allen Menschen, die er getroffen hatte, ins Herz geschaut. Und er hatte keinen gefunden, in dem nicht der Wunsch nach einer neuen, weiteren, anderen Immobilie schlummerte. Und wenn jemand kam, um hier ein Geflüchtetenunterkunft zu bauen, fürchteten sie um ihre Immobilienpreise.

Sogar er selbst hatte ein Auge auf das hübsche Kapitänshaus hoch oben bei Baurs Park geworfen. Von dort hatte man eine wunderbare Aussicht auf Elbe, Süllberg und das ganze Treppenviertel. Auf diesem Ort lag ein böser Fluch. Er musste dem ein Ende setzen. Blankenese musste sterben, um wieder auferstehen zu können. Es half nichts. Er hatte seine Weisungen. Er nahm noch einen Schluck aus der Bierflasche. Dann ließ er die Elbe langsam steigen.

Ein Mann in Postbotenuniform setzte sich neben ihn und musterte interessiert seine Hände. Jesus wurde rot.
"Schön, dass Sie zurück sind", sagte der Postbote.

Die Elbe stieg und stieg und stieg.

"Wer sind Sie?" fragte Jesus.
"Wissen Sie das denn nicht?" fragte der Postbote erstaunt. "Ich dachte, Sie sind allwissend."
"Ich bin doch kein Hellseher oder sonst so ein esoterischer Scharlatan", sagte Jesus entrüstet.
"Ach so. Entschuldigung. Tut mir leid."
"Ich kann nur in die Herzen schauen", sagte Jesus wieder etwas sanfter. "Also noch einmal: Wer sind Sie?"
"Ich bin hier der Postbote", antwortete der Fremde.
"Dann kennen Sie sich hier doch bestimmt ziemlich gut aus", sagte Jesus.
"Ja", sagte der Mann.
"Mal ganz ehrlich: Hier gibt's doch nur Arschlöcher, oder?", fragte Jesus und nahm noch einen Schluck Bier.

Tiktok-Video

Die Elbe stieg und stieg. Das Wasser würde bald die Fluttore am Strandweg erreichen. Jesus schaute ans Ende des Pontons. Dort tanzte ein junges Mädchen ganz allein vor seinem Handy, das es auf einer Duckdalbe abgestellt hatte. Es machte ein Tiktok-Video. Im ersten Moment hatte Jesus ein schlechtes Gewissen. Doch dann fiel ihm ein, dass sie auf dem Schwimmponton sicher war.

"Es gibt viele Arschlöcher hier, das stimmt", sagte der Postbote. "Aber nicht alle in Blankenese sind Arschlöcher."
"Wer denn bitte nicht?" fragte Jesus überrascht.
"Frau Breckwoldt zum Beispiel. Sie war für mich da, als ich hierher kam."
"Wann sind Sie gekommen?" fragte Jesus.
"20016."
"Woher?
"Afghanistan. Ich wurde in der Flüchtlingsunterkunft am Björnsonweg untergebracht, gegen die hier so viele protestiert haben. Aber Frau Breckwoldt hat mir immer geholfen."

Jesus nickte und sagte erleichtert: "Das höre ich gern. Sehr gern sogar."

Die Elbe stieg nicht mehr.

Jesus nahm noch einen letzten Schluck Bier und sagte: "Warten Sie noch eine halbe Stunde. Dann ist das Wasser wieder gesunken. Und danke für die Information. Schön, dass wir uns kennengelernt haben."

Dann stand er auf, ging die Treppe von der Plattform herunter, schritt über den Schwimmponton, und als er am inzwischen überfluteten Strandweg angekommen war, schritt er einfach übers Wasser bis zur nächsten Treppe, die hoch zur S-Bahn führte. Er hatte keine Zeit mehr für Tarnung. Er musste sich beeilen. Warngau am Tegernsee wartete.

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