Allermöher Wiesen
Orientierung
Raus aus Canada-Goose-Country
Kennt Ihr, oder? Das Hamburger Sonntagsproblem. Blauer Himmel, Eiseskälte. Sofort raus an die frische Luft! Sobald der Stadtmensch Raureif auf den Dächern sieht, zieht es ihn ins Freie. Aber wohin: Elbe oder Alster?
"Och nö, nicht schon wieder mit Tausenden von Ausflüglern in die Instagram-Wohnzimmer der Övelgönner Fischerkaten glotzen!"
"Da hat immerhin Peter Rühmkorf gewohnt! Außerdem immer noch besser als Außenalster. Die sieht man doch eh nicht hinter dem undurchdringlichen Wall aus Canada-Goose- und Moncler-Jacken."
Team Elbe und Team Alster werden sich heute wohl nicht mehr einig. Zum Glück gibt's Wasser und Weite auch noch woanders: Mit der S2 Richtung Osten nach Aumühle bis zur Station "Mittlerer Landweg". Von hier aus ist man schnell auf dem Alten Billwerder Bahndamm, der heute zum Wanderweg umgestaltet ist.
Die ehemalige Bahnstrecke wurde damals auch als Hochwasserschutz angelegt. Wie Deichgräfin und -Graf kann man hier oben spazieren, ganz in Ruhe, es sind kaum Menschen unterwegs, weit schweift der Blick über die Marschlandschaft. Das Naturschutzgebiet Allermöher Wiesen füllt das ganze Gesichtsfeld aus. Durchatmen. Lauschen. Landschaft studieren. Das offene Grünland ist durchzogen von Entwässerungskanälen und Seen, die in der Wintersonne funkeln.
Im Schutze einer Brombeerhecke sitzt ein Birdwatcher, der genauso gut isoliert ist wie sein Thermo-Becher, und sucht mit seinem riesigen Objektiv die Ebene ab. Das 88 Hektar große Naturschutzgebiet ist ein Vogelparadies. Hier leben Kiebitz, Rotschenkel, Feldlerche, Wiesenpieper und Uferschnepfe – letztere ist nur noch selten zu finden in Hamburg. Heute ist die kalte Luft vor allem vom Schnattern der Gänse erfüllt.
Hin und wieder dringt ein leises Quietschen von drei Windrädern herüber, die über die Ebene verteilt sind. Sie sehen aus wie Ölpumpen in einer nordamerikanischen Pionierstadt des 19. Jahrhunderts. Golden leuchten sie in der Sonne. Eigentlich sind es keine Windräder, sondern Windpumpen. Sie fördern Wasser in ein weit verzweigtes Grabensystem. So gewährleisten sie einen hohen Grundwasserspiegel in dem Feuchtgebiet.
Graureiher stehen wie humorlose Wachsoldaten entlang der Entwässerungskanäle und prüfen mit schiefem Kopf der Wasserstand. Alte Kopfweiden säumen das weitläufige Areal. So wie es aussieht, werden sie alle zwei Jahre beschnitten: Dicker Stamm, fein verästelte Krone. Das Naturschutzgebiet wird sorgfältig gepflegt. Es ist mehr Kulturlandschaft als Wildnis.
Das Marschland ist eine grüne Enklave inmitten intensiv genutzter Landschaft. Im Westen liegt die Schlickdeponie Feldhofe, wo seit Jahrzehnten giftiger Hafenschlamm abgeladen wird. Im Gegensatz zur hoch kontaminierten Schlickhalde liegt unter den Allermöher Wiesen ausgesprochen schützenswerter Boden, der eine regelrechte Archivfunktion besitzt. Denn die Zusammensetzung des Humus gibt hier Auskunft über die jahrhundertelange acker- und gartenbauliche Nutzung der Marschlanden. Im stark versiegelten Stadtgebiet ist ein solcher Boden immer seltener anzutreffen.
Wenn man sich erst einmal so richtig in die Kulturspuren einer Landschaft versenkt, gerät einem eine einfache Vogelwiese schnell zum örtlichen Stonehenge oder Machu Picchu. Trotz zwanglos schnatternder Wasservögel erscheinen die Allermöher Wiesen als hochorganisierter Naturraum, der streng gerahmt ist von alten und neuen Transportwegen. Während die offene Grasfläche im Nordosten durch den Billwerder Bahndamm begrenzt wird, stößt sie im Südwesten an den hohen Damm der A25. Das ganze Gebiet ist streng eingerahmt, geometrisch zerschnitten und fein parzelliert durch Wälle, Kanäle und Wettern.
Die Fläche bildet einen Landschaftskorridor zwischen dem Naturschutzgebiet "Boberger Niederung" am Geestrand und der schönen Wildnis "Die Reit" zwischen Gose Elbe und Dove Elbe. Rundherum walkt der Mensch die Landschaft durch und durch, belädt sie mit Gift, verschmutzt und versiegelt sie. Doch die Allermöher Wiesen haben als Naturschutzgebiet nun wohl erst einmal Ruhe.
Spaziert man durch die Unterführung der A25, kommt man in die weiten Flussauen der Dove Elbe. Im Sommer wird hier viel Wassersport getrieben. Heute planscht hier nur eine wagemutige Familie in eiskaltem Wasser. Der Fluss breitet sich zu einem weiten See aus, an dem man ganz wunderbar spazieren kann. In den Ästen der alten Eichen warten dicke Raben darauf, dass für sie etwas von den Leckerlis abfällt, mit deren Hilfe Spaziergänger ihre Hunde dressieren.
Am Moorfleeter Deich 359 findet sich ein altes Bauernhaus aus dem Jahre 1660. Damals bauten sich wohlhabende Hamburger hier draußen ihre Sommerresidenzen. Diese hier ist bemerkenswert: Vor ein langgezogenes Fachhallenhaus mit Reetdach wurde ein ländliches Stadthaus vorn an den Deich gesetzt. Die Fassade prunkt mit funkelnder Fensterfront. Im zweiten Stock findet sich gar ein Festsaal, dessen Decke mit Szenen aus dem antiken Mythos von Amor und Psyche bemalt sind. Wenn Hamburg direkt am Deich ein bisschen Toskana spielt.
Amor & Psyche im BBQ-Donut
Heutzutage sind die Vergnügungen wesentlich profaner in Moorfleet: Gleich gegenüber am Wasser kann man sogenannte BBQ-Donuts mieten – runde Boote mit einem Grill in der Mitte. Auf dem schwankenden Donut können bis zu 10 Personen unter einem Sonnenschirm schmorend und schmurgelnd über die Dove Elbe schippern. ("Der Wasser-, Party- und Grill-Spaß in Hamburg Moorfleet!"). Das wassergängige Pendant zum Bierbike. Wenn das Amor und Psyche wüssten.
